Der Shaolin. Karl-Heinz Jonas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl-Heinz Jonas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742736345
Скачать книгу
ihn. Sein Körper war nass von Schweiß, sein Herz raste, und er fühlte sich, als hätte er gerade eine ungeheure körperliche Anstrengung überstanden. Langsam beruhigte sich sein Puls. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er vertraute Gegenstände wahrnehmen. Nun kehrte auch sein Erinnerungsvermögen zurück, und er wusste sich in seinem Bett.

      Mit riesiger Erleichterung stellte er fest, dass er nur geträumt hatte. Jiao war nicht tot! Doch was hatte dieser Traum zu bedeuten? Hatte er überhaupt eine Bedeutung? Befand sich Jiao etwa in Lebensgefahr? Die quälende Ungewissheit versetzte ihn wiederum in Unruhe. Am liebsten wäre er sofort aufgestanden und hätte sich auf den Weg zur Familie Ling gemacht, um sich Gewissheit zu verschaffen. Doch das war unmöglich. Wie hätte er seine Abwesenheit bei Tagesanbruch erklären sollen? Er beschloss deshalb, sofort nach dem Morgenläuten den Meister aufzusuchen, um ihm von diesem Traum zu berichten. Er wollte ihn bitten, sich sobald wie möglich zur Familie Ling zu begeben.

      Er stand auf, wusch sich den Schweiß vom Körper und legte sich wieder hin. Er zwang sich zur Ruhe, Schlaf fand er jedoch keinen mehr.

      „Ich mache mich sofort auf den Weg“, versicherte Meister Shu nach Li Nings Bericht.

      Bald darauf sah Li Ning den Meister das Kloster verlassen. Hoffentlich kam er nicht zu spät!

      Den ganzen Tag über fand er keine Ruhe. Er hatte weder Appetit, noch konnte er sich auf irgendeine Tätigkeit konzentrieren. Nicht einmal das Training konnte ihn von seinen düsteren Gedanken ablenken, und er musste ungewohnt viele Treffer einstecken.

      Ständig wanderte sein Blick in die Richtung, aus der der Meister nach Beendigung seiner Mission erscheinen musste.

      Da er befürchtete, seine Brüder könnten den Grund für seinen Seelenzustand in seinen Augen ablesen, mied er ihre Blicke, so weit es ging. Die Zeit verging viel zu langsam, doch irgendwann neigte sich auch dieser Tag dem Ende zu.

      Kurz vor Sonnenuntergang, als Li Ning bereits schlimme Befürchtungen hegte, betrat Meister Shu endlich den Hof. Am liebsten wäre Li Ning sofort wie ein kleines Kind auf ihn zugelaufen, doch er musste sich beherrschen. Ein solches Verhalten wäre eines Mönchs unwürdig.

      Der Meister begrüßte die im Hof anwesenden Mönche nacheinander. Als er endlich Li Ning gegenüberstand und auch ihn in gewohnter Weise begrüßte, sagte er mit einem beruhigenden Unterton in der Stimme: „Komm in einer Stunde in den Garten.“

      Nun wusste Li Ning, dass seine Befürchtungen nicht eingetroffen waren, sonst hätte er es in den Augen des Meisters lesen können. Oder verstellte sich der Meister, um unüberlegten Handlungen seines Schülers vorzubeugen? Wollte er ihm die schreckliche Nachricht vielleicht schonend beibringen?

      Wieder diese Ungewissheit!

      Er ging in seine Kammer und wartete voller Ungeduld. Endlich, als er glaubte, die Stunde müsse längst vorüber sein, ging er in den Garten. Doch der Meister war nicht da! Hatte er es sich anders überlegt? Konnte oder durfte er ihm nicht die Wahrheit sagen?

      Doch Meister Shu hielt Wort. Ruhig und gelassen schritt er durch das Gartentor, als wisse er nicht, wie sehr er erwartet wurde. Geduld war eine notwendige Tugend für jeden Mönch, vielleicht die notwendigste überhaupt. Auch Li Ning musste diese Lektion lernen, wie sehr es ihn auch schmerzen mochte.

      Schweigend ging Meister Shu durch den Garten, und Li Ning schloss sich ihm an. Meister Shu ließ sich Zeit, bevor er seinen Bericht begann, und Li Ning musste sich wohl oder übel gedulden.

      „Im Moment muss sich niemand Sorgen machen“, begann Meister Shu endlich. “Ek Chen hat die Residenz heute nicht verlassen. Auch deutet nichts darauf hin, dass Ek Chen irgendjemand seine Schande eingestanden oder gar Maßnahmen zu deren Beseitigung ergriffen hat. Ein guter Bekannter der Familie Ling ist in der Residenz des Präfekten tätig und hätte sicher etwas darüber gehört. Es scheint also keine unmittelbare Gefahr zu bestehen. Ek Chen gilt jedoch als sehr rachsüchtig und ist deshalb unberechenbar. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass er uns nur in Sicherheit wiegen will, um dann unverhofft handeln zu können. Deshalb verfahren wir so, wie wir es gestern bereits besprochen haben: Du hältst dich bis auf Weiteres hinter den Klostermauern auf, und wir werden draußen die Augen offen halten.“

      „Wie verhält sich die Familie Ling?“ wollte Li Ning wissen.

      „Auch die Tochter wird in der kommenden Zeit das Elternhaus nicht verlassen. Die Eltern werden auf jede Veränderung in der Umgebung des Hauses achten, und der Bekannte der Familie hält in der Residenz die Ohren offen. Wir können nur hoffen, das Ek Chen seine Rachepläne, sofern er welche hegt, bald aufgibt.“

      Li Ning, dem während dieses Berichts ein Stein vom Herzen gefallen war, sagte, sich tief verbeugend: „Ich danke Euch, Meister.“

      „Du musst mir nicht danken, Bruder Ning. Du weißt ebenso gut wie ich, dass es meine Pflicht ist, mich um die Sicherheit aller unserer Brüder zu sorgen.“

      „Das weiß ich, sicher.“ Doch ebenso wusste Li Ning auch, dass es durchaus nicht die Pflicht des Meisters war, sich um die Sicherheit der Familie Ling zu bemühen. Er nahm sich vor, dem Meister seine tiefe Dankbarkeit zu zeigen, und er wusste auch schon, wie er das am besten tun konnte!

      Dass ausgerechnet ihm das passieren musste! Ihm, Ek Chen, dem einzigen Sohn des allmächtigen Präfekten!

      Es war einfach unglaublich. Erst weigerte dieses dumme Mädchen, ihm zu Willen zu sein, und dann fügte ihm ausgerechnet ein Mönch, der noch dazu waffenlos war und kaum dem Jünglingsalter entwachsen sein konnte, eine derartige Niederlage zu!

      Diese Schande musste auf jeden Fall gesühnt werden, koste es, was es wolle. Beide würden mit dem Leben bezahlen müssen, das stand fest. Bevor er das Mädchen töten würde, musste es jedoch ihm gehören. Jawohl, das dumme Ding sollte wissen, was es versäumt hatte!

      Doch wie sollte er seiner habhaft werden? Er kannte weder den Namen, noch wusste er, wo es wohnte. Sicher wäre es mit Hilfe seines Vaters ein Leichtes gewesen, dies herauszufinden, doch dann würde er diesem seine Schande eingestehen müssen. Und das wollte er um keinen Preis!

      Nein, es musste eine andere Möglichkeit geben. Auch wenn es Jahre dauern würde, er würde Rache nehmen. Und diese Rache würde er auskosten!

      Diesen frechen Mönch jedoch musste er nicht suchen. Hier würde es leichter sein, ihn zu erwischen. In Stücke würde er ihn reißen!

      Bei diesen Gedanken umspielte ein grausames Lächeln seinen Mund.

      Die kommenden Wochen brachten Li Ning wenig Abwechslung. Den Tag verbrachte er mit der Erfüllung seiner Pflichten sowie mit mehrstündigem Training. Um dem Meister seinen Dank zu zeigen, trainierte er nun mit noch mehr Hingabe.

      Meister Shu bemerkte es durchaus und zeigte dies auch bisweilen durch ein Lächeln. Er sagte allerdings nichts.

      Li Nings Nächte vergingen ebenfalls eine wie die andere: Jiao erschien ihm im Traum, allerdings ohne diesen Ek Chen. Er träumte, wie sie neben ihm durch den Wald ging und vergeblich versuchte, ihre körperlichen Reize unter den zerrissenen Kleidern zu verbergen. In jedem Traum wurden diese Bemühungen jedoch geringer, bis sie es schließlich ganz aufgab. Und auch er bemühte sich nicht mehr, seinen Blick von ihr abzuwenden. Im Gegenteil. Er nahm ihren zerbrechlichen Körper schützend in seine Arme. Die Träume wurden immer intensiver, und seine Sehnsucht wuchs. Mehr und mehr wünschte er den Tag herbei, an dem er die Klostermauern wieder verlassen konnte.

      „Bruder Ning“, sagte der Meister endlich eines morgens. „Wir sind der Meinung, dass nun genügend Zeit verstrichen ist. Da Ek Chen seit dem Vorfall weder in der Nähe des Klosters noch in der Nähe des Hauses der Familie Ling gesehen wurde, können wir wohl davon ausgehen, dass er nicht auf Rache sinnt. Du kannst also wieder deinen gewohnten Pflichten nachkommen. Ich möchte dich aber trotzdem bitten, kein unnötiges Risiko einzugehen. Entferne dich noch nicht zu weit vom Kloster, und verständige uns bei drohender Gefahr sofort.“

      Scheinbar gelassen gab Li Ning dem Meister dieses Versprechen. Er hätte jedoch vor Freude in die Luft springen