Der Shaolin. Karl-Heinz Jonas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karl-Heinz Jonas
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742736345
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mit einem Fußstoß am Rücken. Im Ernstfall wäre die Wirbelsäule des Getroffenen gebrochen.

      Nun konnten die Zuschauer nicht mehr an sich halten; alle jubelten Li Ning zu. Kaum jemand konnte wirklich verstehen, was dort geschah, es war einfach nicht zu fassen! Da besiegte ein junger Mönch reihenweise Meister, indem er die wichtigsten Grundregeln einer jeden Kung-Fu-Ausbildung missachtete!

      Meister Shu ging auf Li Ning zu, und sie gaben sich die Hände. Der Triumph war vollkommen; beide waren von niemandem bezwungen worden und würden miteinander den Endkampf bestreiten. Und Li Ning hatte auf beeindruckende Weise die Überlegenheit des neuen Kampfstils bewiesen. Darüber war dieser sehr glücklich. Andererseits gefiel ihm der Gedanke, gegen seinen Meister kämpfen zu müssen, keinesfalls. Schließlich konnte es nur einen Sieger geben. Dies aber bedeutete auch, dass zwangsläufig einer der Unterlegene sein musste.

      Sie wurden zum Endkampf gerufen. Wohl keiner der im Kloster anwesenden Männer fehlte. Würde der junge Mönch wirklich das Kunststück fertig bringen, auch den besten Meister zu bezwingen? Meister Shu hatte bereits geäußert, er fühle sich nicht in der Lage, Li Ning zu besiegen. Doch dies war vor dem Kampf gewesen. Nun würde er seinen ganzen Ehrgeiz daransetzen müssen, nicht zu unterliegen.

      Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt.

      Meister und Lieblingsschüler standen einander gegenüber und verbeugten sich. Dann nahmen sie die Kampfstellung ein.

      Li Ning konnte deutlich in den Augen seines Meisters lesen, dass auch ihm diese Situation aufs Äußerste missfiel. Beide begannen mit spielerischen Scheinangriffen und entsprechenden Abwehrbewegungen, wie sie es Tausende Male im Training miteinander geübt hatten.

      Wieder standen sie sich gegenüber und schauten einander an. Plötzlich hatte Li Ning eine Idee!

      Nach den nächsten Angriffen seines Meisters wusste er, dass dieser den gleichen Gedanken hatte. Natürlich konnten sie die Reaktion der Zuschauer und der Wettkampfleitung nicht voraussehen, doch dieses Risiko mussten sie eingehen. Sie vollführten nun einen Schaukampf, bei dem sie bekannte und neue Angriffsaktionen und entsprechende Abwehrbewegungen perfekt miteinander verbanden. Die Bewunderung der Zuschauer wurde größer und größer, Jubelrufe und Rufe des Erstaunens wechselten einander ab. Alle hatten längst bemerkt, dass die beiden nicht beabsichtigten, einander zu besiegen. So verging Minute um Minute.

      Als sich beide wiederum gegenüberstanden, erhob sich Meister Fu und hob eine Hand. Damit war der Kampf unterbrochen.

      Mit lauter Stimme sagte er: “Meister Shu, Bruder Ning, ich glaube im Namen aller zu sprechen, wenn ich sage, dass wir gerade das überragendste Kung Fu unseres Lebens gesehen haben. Ihr beide seid hervorragende Kämpfer, und es ist unwichtig, wer von euch am Ende den Sieg davongetragen hätte.“

      Er richtete den Blick auf Meister Shu. „Wie wir alle sehen konnten, habt Ihr nicht übertrieben, was Bruder Nings Kampfkunst anbelangt.“ Er lächelte vielsagend. „Doch habt Ihr uns verschwiegen, dass auch Ihr die für uns neue Kampfesweise bereits perfekt beherrscht.“

      Er ließ seinen Blick über alle Anwesenden hinwegschweifen, bevor er fortfuhr: „Was wir heute gesehen haben, darf nicht einigen wenigen Mönchen vorbehalten bleiben. Es gibt wohl niemanden unter uns, der nicht in dem neuen Kampstil unterwiesen werden möchte, auch wenn nicht viele von uns in der Anwendung jemals so perfekt sein werden wie Meister Shu und unser Bruder Ning - der längst kein Schüler mehr ist. Ich schlage vor, alle Meister des Kung Fu zusammenzurufen, um zu beraten, was zu tun ist. Deshalb frage ich Euch, Meister Shu und Euch, Meister Ning: Seid Ihr bereit, unsere Lehrer zu sein?“

      Ein neuer Begeisterungssturm zeigte, dass Meister Fu die richtigen Worte gewählt hatte.

      Überglücklich schaute Li Ning seinen Meister an. Als Teilnehmer eines Turniers war er gekommen, hatte sowohl alle Schüler als auch Meister besiegt und war nun selbst zum Meister ernannt worden. Er sollte andere Meister seine Kampfkunst lehren. Nichts auf der Welt hätte ihn glücklicher machen können!

      Auch Meister Shu stand der Stolz ins Gesicht geschrieben. Nachdem sich beide wieder etwas gefasst hatten, antwortete er in beider Namen: “Wenn Ihr es wünscht, gern.“

      Kapitel 6

      Am nächsten Tag machten sich alle auf den Heimweg. Meister Shu und seine Begleiter würden wieder einige Tage wandern müssen, bis sie das heimische Kloster erreichten. Der Rückweg würde jedoch kurzweiliger werden, denn es gab viel zu erzählen. Die beiden neuen Freunde allerdings beteiligten sich in der ersten Zeit nicht an diesen Gesprächen. Der Eindruck des gerade Erlebten hielt sie noch zu sehr gefangen.

      Li Ning konnte sein Glück noch immer nicht fassen. Man hatte ihm zum Meister ernannt - zum zweifellos jüngsten Meister, den es je gegeben hat! Und schon bald sollte er andere Meister in seinem Kampfstil unterrichten. Dieser Gedanke machte ihn unendlich stolz, aber auch unsicher. War er dieser Aufgabe schon gewachsen? Mutete man ihm da nicht zu viel zu? Zum Glück würde er nicht allein sein. Und Meister Shu war schließlich ein erfahrener Lehrer. Dieser Gedanke nahm Li Ning viel von seiner Unsicherheit.

      Auch Hua Feng war mit seinen Gedanken beschäftigt. Durch einen Fehler, den er zutiefst bereute, war er aus seinem Kloster verbannt worden. Doch gerade diese Verbannung würde ihn als ersten Mönch eines fremden Klosters in den Genuss bringen, die neue Kampfmethode zu erlernen. Und dem selben Fehler hatte er es auch zu verdanken, dass er einen neuen Freund gewonnen hatte. Einen Freund, dem wohl kein Kung Fu-Kämpfer des gesamten Reiches der Mitte gewachsen war!

      So vergingen die ersten beiden Tage der Heimreise. Am dritten Tag hatten sie jedoch ein Erlebnis, das keinen geringeren Einfluss auf ihre Zukunft haben sollte, als der vergangene Wettkampf mit dem für sie so glücklichen Ausgang.

      Es war bereits später Nachmittag, und es zogen Regenwolken auf. Vor ihnen lag ein kleines Dorf, und sie beschlossen, dort nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu fragen. Als sie den Rand des Dorfes erreichten, sahen sie plötzlich Männer, die laute Befehle riefen, aber auch Frauen und Kinder, die ängstlich schrien. Einige flohen in den angrenzenden Wald.

      Keiner der Mönche konnte sich dieses Verhalten erklären. Doch als sie auf dem Dorfplatz ankamen, mussten sie feststellen, dass bewaffnete Männer eine Reihe von wehrlosen Bauern, Frauen und Kindern bedrohten. Drei Menschen lagen reglos am Boden. Die Mönche erstarrten. Was hatte das zu bedeuten? Hatte das Dorf die Steuern nicht bezahlt? Die Bewaffneten machten jedoch nicht den Eindruck, als seien sie Steuereintreiber. Wer waren diese Männer also?

      Die folgenden Worte des bis an die Zähne bewaffneten Anführers gaben ihnen Aufschluss.

      "Wir warten nicht mehr lange. Wenn nicht sofort die verlangten zehn Rinder hergebracht werden, töten wir alle Frauen und Kinder und brennen das gesamte Dorf nieder."

      Nun wussten die Mönche, wen sie vor sich hatten. Eine Verbrecherbande terrorisierte das Dorf, und diese Menschen waren ihr hilflos ausgeliefert. Sie hatten weder Waffen, noch konnten sie sich anderweitig verteidigen. Kurzentschlossen trat Meister Shu vor. "Was müssen wir sehen? Wie könnt ihr es wagen, diese armen Menschen zu bedrohen? Was haben sie euch getan?"

      Die Banditen, die offensichtlich noch keine Notiz von den Mönchen genommen hatten, drehten sich um.

      Der Anführer, ein völlig verroht aussehender Bursche, grinste. "Nichts."

      "Dann lasst diese Menschen in Frieden. Alles, was sie besitzen, haben sie sich mit viel Schweiß erarbeitet. Ohne Rinder haben sie keine Milch für die Kinder und können den Acker nicht bestellen. Wenn ihr ihnen ihre Tiere nehmt, müssen sie Hunger leiden."

      Li Ning schaute auf die am Boden Liegenden und erschrak. Erst jetzt bemerkte er, dass sie tot waren. Von den Bewaffneten gnadenlos erschlagen! Sein Schrecken wurde noch größer, als er unter den Toten ein kleines Kind enddeckte. Er wollte schlucken, doch sein Hals war wie zugeschnürt. Als Mönch war er friedlich erzogen worden. Das Leben, besonders das menschliche, war ihm heilig. Und dort standen Männer, die für ein paar Rinder das Leben wehrloser Menschen auslöschten, und dabei auch vor dem Mord an