Silvia sah in die gedeutete Richtung: Wie ein mahnender Zeigefinger ragte aus einem Aschetal ein Trägermast der alten Seilbahn heraus. Wie nach einem apokalyptischen Angriff, die Reste der Zivilisation grüßen die Überlebenden... „Das ist wirklich gruselig, wie ein Mahnmal, dass wir es immer noch mit einem aktiven Vulkan zu tun haben, den man keinen Moment unterschätzen sollte.“ Der „guida del vulcano“ nickte den beiden Frauen zu. „Die alte Seilbahn ist 2002 begraben worden, und wenn dem Ätna morgen die neue nicht mehr gefallen sollte, ist damit dann auch Schluss!“ Er lachte, als er das besorgte Gesicht von Frau Menken sah. „Keine Sorge, wir sind gut vorbereitet. Der Vulkan wird besser überwacht als ein Terrorist in einer Einzelzelle. Wenn es nur die leisesten Hinweise auf einen drohenden Ausbruch gibt, sagen wir sofort alle Touristentouren ab. Nichts ist schlechter fürs Geschäft als eine Bilderstrecke im ‚Corriere della Sera‘ mit verkohlten und in Lava verkapselten Körpern, die mal zur eigenen Bergtruppe gehörten!“
„Na, det is’ ja beruhigend.“ Frau Menken wandte ihren Blick ab.
Als sie die Bergstation erreichten, stand schon ein Unimog bereit, in dem die andere Gruppe bereits Platz genommen hatte. Alle mussten sich anschnallen, dann begann eine wahrlich wilde Fahrt durch unwegsames Gelände. Sie wurden kräftig durchgeschüttelt, wenn Silvia auch den Verdacht hegte, dass der Fahrer dies beabsichtigte, um sie zu beeindrucken.
Dann stoppte das Gefährt scheinbar im Nichts. Auf der anderen Seite des Busses befand sich eine kleine Berghütte, die „Torre del Filosofo“.
Silvia sah sich um: eine atemberaubende Aussicht – um sie herum eine karge Mondlandschaft, in grauem und stellenweise rotem Lavagestein und locker scheinender Asche. Ein festgetretener Pfad führte von der Hütte weg, verzweigte sich vielfach und zeigte zu den vielen Kratern, die größten wie Berggipfel aufragend. Zarte Rauchschleier strömten aus ihnen, wie um anzudeuten, dass es sich eben nicht um gewöhnliche Berge handelte. Auch neben den Wegen, hier und da, stieg Rauch aus Spalten im Boden. Die Luft war deutlich dünner als im Tal und eiskalt. Nur wenige Grade über Null, vermutete Silvia. Sie war froh, trotz der sommerlichen Wärme an Bord genau für diesen Tag ihre Allwetterjacke mitgenommen zu haben. Auch die anderen Teilnehmer der Bergtour zogen die Reißverschlüsse dicker Jacken zu. Kapuzen wurden zurechtgerückt und Mützen aufgezogen.
Gianni sprach kurz mit dem anderen Bergführer, dann wandte er sich ihnen zu: „So, cari amici, da sind wir, am Ausgangspunkt unserer Wanderung. Wir gehen zusammen, die etwas besondere Gruppe bitte mit Massimo voraus, damit wir uns an ihr Tempo anpassen können. Bleiben Sie gerne ab und zu stehen, Sie können auch Fotos machen, genießen Sie die Aussicht, aber vergewissern Sie sich, dass Sie zu jedem Zeitpunkt wieder zu uns aufschließen können! Wenn Sie sich von uns entfernen, ist das sehr gefährlich und ausgesprochen completamente idiota!“
Der Tross setzte sich in Gang.
Die Blinden gingen in Dreiergruppen, zwischen Frank und Tobias ging Manfred, Alex und Klaus hatten sich bei Sebastian eingehakt. Massimo begleitete sie, um sie auf Besonderheiten des Weges hinzuweisen. Gianni gesellte sich zu den Übrigen.
Silvia war erstaunt über das Tempo, das die Gruppe nahm – und über ihre Trittsicherheit: Jeder der Blinden schien sich mit dem weißen Stock und an der Seite seines Führers so sicher zu fühlen, dass sie sehr zügig vorankamen.
Schnell gewannen sie an Höhe. Frau Menken, wie ein klebriges Bonbon an einer Schuhsohle an Silvia hängend, begann bald zu keuchen: „Mensch, die loofen, det ist ja nicht zu glauben. Ick komm’ schon schwer nach, aber so ins Dunkle, det is stark, wa’? Warum tun die det nur?“
„Nicht wegen der Aussicht, da wette ich“, Silvia grinste, „wir werden sie nachher auf dem Schiff mal fragen. Ich saß gestern Abend noch mit einigen von ihnen zusammen, das war ausgesprochen nett!“
„Nicht wegen der Aussicht“, echote Herr von Waldensrieth halblaut seiner Frau zu,„nicht wegen der Aussicht. Ist ja toll, zu viert drei Betreuer, die einem den Bauch pinseln, eine wahre Luxusführung ist das. Und natürlich, wir passen uns denen an, was auch sonst!“
„So, so, das ist ja schön.“ Irene tat, als hätte sie den bissigen Kommentar nicht gehört, „icke war gestern Abend im Theater, det ist ja ooch was, jeden Abend Show ...“
Sie stellte Silvia den vollständigen Plan der Abendveranstaltungen auf dem Schiff vor, inklusive allem, was sie demnächst so vorhaben würde.
Silvia hörte nur mit einem Ohr zu. Sie war viel zu beschäftigt, alle anderen Sinneseindrücke zu verarbeiten. Der Boden bestand aus gräulich–rötlichem Geröll, gelegentlich wehten Schwaden mit schwefligem Geruch durch die frostigklare Luft. Die Landschaft sah fremdartig aus, mit Kegeln und Kratern verschiedenster Größen um sie herum. Ab und zu waren Flecke von Blüten zu sehen, die wie kleine Polster aus dem Boden wuchsen, als hätte das Amt für Tourismus beschlossen, dass hier Farbkleckse hingehören und wahllos bunte Kissen verstreut.
Neben einer kleinen Spalte, aus der dichter weißlicher Rauch drang, hielt die Gruppe an. Der Geruch nach faulen Eiern verstärkte sich. Am Rand des Erdrisses waren Schwefelkristalle wie gelbe Flechten gewachsen. Auf Anleitung des Fremdenführers hin bückten sich die Blinden, um den Boden und die Kristalle zu befühlen, Silvia tat es ihnen aus einer Laune heraus gleich. Die Erde war mit einer dünnen Schicht staubartiger Asche bedeckt, die weich auflag. Am Rand der Spalte, die etwas wärmer war als die Umgebung, strich sie über die erstarrte Lava: Obwohl sie ganz glatt schien, war sie wie fein angeraut, das konnte man tatsächlich nur fühlen, nicht sehen. Die gelben Schwefelkristalle dagegen waren hart und brüchig.
„Das ist erstaunlich, wie unterschiedlich sich das anfühlt. Ich hätte nicht gedacht, dass der Lavaboden so angeraut ist!“
Frank, der neben ihr hockte, wandte sich ihr zu: „Kinder, ich sage ja immer: ‚Was entgeht euch alles, nur weil ihr sehen könnt.‘“
Silvia war diese Reaktion ein bisschen unangenehm, aber an seinem Grinsen merkte sie, dass es nicht schroff oder unhöflich gemeint war. Schnell entgegnete sie:
„Wirklich erstaunlich. Ich werde mich jetzt öfter in unwegsamem Gelände mit drohenden Vulkanausbrüchen im Nacken hinknien und den Boden betasten!“, sie lachte kurz auf und freute sich, als auch er lächelte.
Als der Weg sie um den Hang eines Kegels führte, stoppte die Gruppe wieder. Es war überwältigend: Die klare eisige Luft gab einen großartigen Ausblick frei.
Gianni beschrieb der Touristengruppe die Sicht sehr anschaulich, sodass auch die Blinden eine Vorstellung gewinnen konnten: „Genau auf zwölf Uhr sehen wir in Richtung Nordosten einen grünen Streifen unserer bellissima isola siciliana, die Meerenge von Messina und die Spitze des italienischen Stiefels. Auf ein Uhr ist eine Stadt zu erkennen, das ist Taormina. Auf vier Uhr geht der Blick über das weite Mittelmeer, das ganz ruhig daliegt und von hier aus wie ein dunkelblauer Spiegel wirkt.“ Sebastian fügte hinzu: „Und wieder auf zwei Uhr“, alle, Blinde wie Sehende, drehten den Kopf zurück, „sehen wir alle ... gar nichts. Es ist nicht zu erkennen, aber dort liegt unser nächstes Ziel in Griechenland.“ Alle lachten, bis auf Familie Waldensrieth, die verächtlich durch die Nase schnaubte.
Gianni versorgte die Gruppe beständig mit Details darüber, was man sehen konnte, welche Pflanzen nur zu dieser Zeit hier wuchsen und wie die unterschiedlichen Staub– und Geröllarten hießen. Auch wusste er zu jedem Krater das Jahr seiner Entstehung.
Sie umrundeten einen der Hauptkrater des Ätnas, der wie eingefasst aus einem Schneefeld ragte, das unter ihren Füßen knirschte. Frau Menken konnte sich nicht mehr einkriegen: „Det is’ ja Wahnsinn! Heute Morjen noch in’ne Sonne jelegen, jetzt im Schnee stapfen!“ Auch Silvia machte es viel Freude über den Schnee zu gehen, die klare Aussicht auf das Meer zu genießen, wo der Frühsommer schon eingezogen war. „Ist unglaublich, dieser Unterschied, ein paar tausend Meter hoch und schon ist es wieder Winter.“ Immer wieder sah sie den Wölkchen nach, die ihr Atem hinterließ und scharrte mit den Füßen im Schnee. Viele Fotos wurden von allen Sehenden gemacht; die von Waldensrieths knipsten sich gegenseitig so oft, dass Silvia sich fragte, ob