Blinde Passagiere. Sabine Reimers. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabine Reimers
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738034851
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etwa?“

      „Ach, halt doch dein Maul!“

      Sie zogen weiter, außer Hörweite.

      Silvia trank den Rest Pinot Grigio aus, stellte das Glas auf die Theke der Bar zurück und verließ das Deck.

      Als sie ihre Kabine betrat, in der noch alles dunkel war, spürte sie für einen kurzen Moment eine Beklemmung, die ihren Brustkorb gefangen nahm. Sie schaltete das Licht ein. Tief durchatmen, nicht gleich in Panik geraten. Nur Dunkelheit, alles ist gut.

      Sie legte das Buch auf den Nachtschrank und machte sich zum Schlafengehen fertig. Die kleine Lampe über dem Bett ließ sie brennen, nur diese erste Nacht, solange alles noch ungewohnt war.

      Er lauschte seinem Herzschlag, der nun wieder ruhig und gleichmäßig war. Der Rausch, die Erregung, war vorüber. Ruhe. Besser war es gelaufen, viel besser als er vermutet hatte. So endlos oft hatte er in seiner Fantasie die Situation durchgespielt, sich Alternativen vorgestellt, jede Gegenwehr und Reaktion abgewogen und sich Pläne zurechtgelegt, um nicht hilflos dazustehen. Nichts war unvorbereitet gewesen, nichts war unvorhergesehen abgelaufen. Er lächelte in sich hinein. Gut so. Seine Freunde schwiegen zu seiner Tat, das hieß, sie waren zufrieden. Es war seine Mission, auf diesem Schiff zu helfen. Sie hatten ihm versprochen, Menschen zu schicken, die seine Hilfe nötig hätten, wenn er bereit dazu wäre. Und bereit war er schon lange.

      Nachdem der Steward auf dem Hocker in sich zusammengesunken war, gönnte er sich einen kurzen Moment, legte sich einfach auf den Boden und genoss den Nachklang seines gewaltigen Höhepunktes. Wie ein Dampfhammer rauschte der Pulsschlag in seinen Ohren, verzaubert spürte er der Erregung nach, die ihn in nie gekannter Weise stimuliert hatte. Vielleicht fiel er in einen kurzen Schlaf, wer weiß? Dann begann er mit dem Aufräumen. Zunächst ging er zum Bett und zog seine Hose wieder an. Mit einem Gefühl des Stolzes schloss er seinen Gürtel. Vor dem Nachttisch lag ein kleiner Haufen mit Kleidungsstücken. Nach und nach nahm er sie behutsam, fast zärtlich, auf und strich darüber. So gut es ging, legte er die Sachen zusammen und auf dem Bett ab. Als Letztes hielt er die Jacke des Stewards in seiner Hand. Er schnitt einen der oberen, goldüberzogenen Zierknöpfe ab. Achtsam fühlte er mit dem Zeigefinger die geprägte Oberfläche, die das Wappen der Reederei zeigte. Er legte den Knopf in eine kleine Pappschachtel, die er extra für diesen Zweck mitgenommen hatte.

      Aus dem Kleiderschrank nahm er eine Rolle Bindfaden und schnitt zwei lange Schnüre ab. Er stapelte die Kleidung des toten Mannes darauf. Dann nahm er ein Buch aus dem Schrank, „Hannibal Rising“, und legte es zwischen Hose und Hemd. Schließlich verknotete er die Fäden.

      Nun kam das Wichtigste: die Pflege seines Gefährten.

      Er trat ins Bad, um das Messer abzuwaschen. Es schien in seiner Hand zu zucken, voller Stolz über seine perfekte Tat. Es bedankte sich, weil es so gut und sicher geführt worden war und so seiner Bestimmung in Perfektion nachkommen konnte. Liebevoll strich er über die Klinge und trocknete sie mit einem Mikrofaserlappen ab. Aus einem Fläschchen mit Pipettenverschluss nahm er einen einzigen Tropfen Spezialöl und verrieb ihn minutenlang auf der Metallschneide.

      Seine Hände fuhren wieder und wieder den glatten, kühlen Stahl entlang. „Ich bin sehr stolz auf dich. Wir beide haben das sehr gut gemacht. Er hat nicht gelitten und wir konnten endlich das erste Mal wirklich helfen. Ich habe gespürt, wie deine Schärfe mühelos in ihn drang, getrieben von dem Wunsch, zu helfen.“

      Er steckte den Dolch dann in das kleine, maßgeschneiderte Lederetui.

      Schnell würde er jemanden Neuen finden müssen, um das Messer und seine Freunde zufriedenzustellen.

      Nun galt es zu warten, ein bisschen lesen, vielleicht ein wenig fernsehen – bis die Zeit für die Vollendung gekommen war.

      Tag zwei von zwölf

      Silvias Wecker klingelte wie gewohnt um sechs Uhr. Auch im Urlaub wollte sie ihre seit drei Monaten gewonnene Routine beibehalten: eine Stunde Sport, Frühstück, dann den Tag beginnen.

      Sie zog den Laufdress an und verließ die Kabine, um in das Fitnesscenter zu gelangen.

      Trotz der frühen Stunde waren fünf der zehn Laufbänder bereits belegt. Silvia grüßte kurz nach rechts und links und legte dann ihr Handtuch über die Stange an der Seite und schaltete das Band ein. Zehn Kilometer, mit Steigungen und Sprints. Nach der Kreuzfahrt wollte sie ihren Dienst als Kommissarin wieder aufnehmen, dazu musste sie körperlich wie geistig wieder voll auf der Höhe sein. Ihr Ehrgeiz verlangte von ihr, dass sie ihrer alten Form in nichts nachstand. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie sich ein Jahr lang gehen lassen, aber seit einigen Monaten, seitdem sie die Perspektive gewonnen hatte, zurückzukehren, arbeitete sie wieder hart und hatte sich konkrete Trainingsziele gesetzt. Und wer weiß, bei einem Einsatz konnte eines Tages die Fitness über ihr Leben entscheiden ... Beim Laufen motivierte sie sich immer damit, dass sie auf alles zurückblickte, was sie in der Rehabilitation schon geschafft hatte. Immer wieder war sie versucht, wenn das Band eine Steigung simulierte, oder einen Sprint ansetzte, das Tempo herunterzusetzen. Dennoch tat sie es nicht: „Wenn ich einen Täter verfolgen muss, kann ich ihn auch nicht bitten, etwas langsamer zu laufen!“

      Zuhause lief sie gerne im Tiergarten, lieber noch am Schlachtensee in Zehlendorf.

      Das tat ihr immer sehr gut, und nichts macht den Kopf klarer, als diese Stunde jeden Morgen. Hinterher fühlte sie sich einfach nur super; frische Luft im Körper macht frische Gedanken im Kopf!

      Es war so wohltuend, auf das Meer zu schauen, zu sehen, wie das Schiff langsam seinen Weg durch die blaue Unendlichkeit nahm, stetig, unbeirrbar auf das Ziel gerichtet. Auf der anderen Seite, von ihrer Kabine aus, hatte sie bereits die Küste gesehen. In einer Stunde würde die „Amerigo“ in Civitavecchia anlegen.

      Silvia schnaufte sich eine vom Laufband vorgetäuschte Steigung hinauf. Nicht aufgeben, beiß dich durch, du schaffst das! Endlich wurde das Band wieder gnädiger. Sie lief langsam den letzten Kilometer aus, trat herunter und dehnte ihre Muskeln ausgiebig.

      Nach der Dusche in der Kabine betrat sie wieder das Restaurant. Durch die voll verglaste Fassade war der Hafen zu erkennen, in der Ferne die Bergkette der Apenninen. Darüber ein strahlend blauer Himmel; einige wenige Schönwetterwölkchen sorgten für einen perfekten Kontrast.

      Als sie den riesigen Saal durchquerte, fielen ihr etliche Gesichter auf, die sie schon am Abend vorher bemerkt hatte. Irre, über zweieinhalbtausend Leute auf dem Schiff und man trifft die gleichen Gesichter wieder, lächelte sie.

      Auch Irene Menken saß an dem runden Tisch vom Vorabend, eifrig mit der Mutter von Claudius schnatternd und schien Silvia zunächst kaum zu bemerken. Als sie näher kam, brach Frau Menken ihr Gespräch jedoch ab und winkte begeistert: „Hallo, Frau Landwehr, na, det ist ja een Zufall, dat Sie och wieder hier sind! Hier, kommen Sie, kommen Sie.“ Sie rückte ihren Stuhl beiseite, um Silvia noch deutlicher auf den freien Platz neben sich hinzuweisen.

      „Unsere blinden Freunde von jestern sind schon wieder weg, war ne Schau, die am Büfett zu sehen ... Eener hat allet erklärt und dann, wie normal, nich‘ zu glauben, haben die sich bedient. Nicht zu glauben, wa?“

      Sie drehte sich nach rechts, um gleich weiter zu palavern. Silvia war das mehr als recht. Das Büfett war wieder gewaltig: Eine unfassbare Menge an verschiedenen Brötchen, Broten, Aufschnittsorten, Marmeladen – und das war nur der „kalte“ Teil! Es gab noch die Möglichkeit, sich ein ganzes Menü zusammenzustellen, mit verschiedensten Eierspeisen, Würstchen, Schinken, gegrilltem Gemüse, gebackenen Bohnen, heißen Waffeln und Pfannkuchen. Natürlich durfte auch eine Müslitheke nicht fehlen. Genau darauf steuerte Silvia gleich zu. Sie liebte morgens Müsli und die Auswahl hier stand der in einem großen Supermarkt in nichts nach. Dazu gab es ein riesiges Angebot an frischem Obst, bereits geschnitten, oder schon als Salat angerichtet – ein Paradies. Silvia nahm sich noch Bananen– und Pfirsichstückchen obenauf und garnierte alles mit Joghurt und, kleine Sünde, Schokostreuseln. Dann bugsierte sie ihre mittlerweile recht überladene Schüssel