Schließlich kamen sie zur anderen Seite des Kegels und begannen mit dem Rückweg.
Als sie vom Berg abstiegen und das Schneefeld weit hinter sich gelassen hatten, führte Massimo sie in ein steiles Gebiet voller Asche, durchsetzt mit kieselsteingroßen Lavabröckchen, den Lapilli.
Er machte der Gruppe vor, wie Menschen in der weichen, zentimeterdicken Staubschicht wie auf dem Mond den Berghang hinab springen konnten, halb hüpfend, halb rutschend. Es machte einen Riesenspaß! Silvia hatte nach kurzer Zeit eine Technik entwickelt, die es ihr erlaubte, immer gleich drei, manchmal sogar vier Meter voran zu gleiten. Auch Frau Menken juchzte und legte sich mehrfach in die schwarze Schlacke.
Plötzlich hörten sie einen Schrei, gefolgt von deutlicher Aufregung. Alle drehten sich in diese Richtung um und sahen Manfred mit seinen beiden Begleitern in der Asche liegen. Sie versuchten aufzustehen, was ihnen durch den weichen Untergrund sehr schwer fiel. Der Blindenführer aber stand nicht auf. Silvia eilte, wie der Rest der Gruppe, zu ihm – was nicht einfach war, denn bergauf hatte der Belag fast Treibsandqualität, so schnell zog er sie wieder abwärts. Dazu kam die dünne Luft, sodass das Ganze ihr einiges abforderte, aber sie kämpfte sich hoch. Gianni, Massimo und Sebastian waren bereits bei ihm und zogen das rechte Hosenbein langsam hoch, was von Stöhnen und Schmerzenslauten Manfreds begleitet wurde. Aus einer großen Wunde sickerte dunkelrotes Blut. Schlimmer: eine weiße Spitze ragte deutlich aus der Haut hervor. Ein Knochen. Manfred war über einen in der Asche verborgen liegenden Felsen gestürzt und hatte sich das Bein beim Fallen unglücklich verdreht. Er biss die Zähne zusammen, war ganz bleich: „Scheiße, das tut furchtbar weh. Ich gucke mal besser nicht hin, oder?“
„Nein, lass das. Schau in den Himmel, ist besser für dich!“ Auch Sebastian war ganz bleich geworden.
„Wie können wir helfen?“ Silvia schaute Gianni an.
Der Italiener holte aus seinem kleinen Rucksack ein Verbandsköfferchen hervor. Er schüttelte den Kopf: „Da ist mit unseren Mitteln nicht viel zu machen.“ Er legte eine Kompresse auf die Wunde und wickelte ganz vorsichtig eine Mullbinde darum, um die Wunde vor weiterer Verschmutzung zu schützen. Schon durch diese sachte Berührung verursachte er Manfred große Schmerzen.
„Es gibt einen Hubschrauberlandeplatz an der Bergstation der Seilbahn. Bis zum „Torre del Filosofo“ müssen wir ihn zu zweit tragen, da stehen die Unimogs. Gott sei Dank haben wir ja zwei Führer – einer geht mit und einer bleibt bei der anderen Gruppe.“
„Okay, aber wer kümmert sich dann um unsere Jungs?“ Alle Farbe war aus Manfreds Gesicht gewichen, er sah aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden.
Frank hatte bisher nur dagestanden: „Ich denke, dass wir das gut schaffen. Wir haben ja immer noch einen intakten Bergführer, der den Weg kennt.“
„Und“, ergänzte Silvia, „genug sehende Augen, um hier alle heil runterzubringen!“ Manfred versuchte sich etwas aufzurichten und übergab sich. „Tut mir so leid, aber es tut so weh!“ Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.
Sebastian legte ihm die Hand auf die Schulter: „Glauben wir dir. Wir werden jetzt versuchen, dich hochzunehmen, um dich tragen zu können, das wird ganz sicher schlimm, aber es ist die einzige Möglichkeit.“
Er zog mit Gianni den Verletzten mit einer flüssig wirkenden Bewegung auf ihre verschränkten Hände und legte seine Arme um ihre Schultern. Manfred hatte sich beim Aufrichten so auf die Lippen gebissen, um nicht zu schreien, dass ihm nun auch Blut den Mund hinab lief.
Frau Menken hielt ein Taschentuch parat und goss aus ihrer Flasche etwas Wasser darauf. Sie tupfte das Blut ab: „Junge, det is‘ ja wat, wat de dir da einjehandelt hast.“ Ihr Gesicht war fast so weiß wie das von Manfred. Mitleidig schüttelte sie den Kopf. „Braucht ihr Wasser? Taschentücher? Pflaster? Hab’ allet dabei!“
Die drei nahmen gerne ihre Wasserflasche und Papiertücher für Manfred mit und machten sich auf zu dem Weg oberhalb des Aschefeldes, um so schnell wie möglich zur Bergstation zu kommen.
„So, ich denke, wir teilen uns dann mal neu auf: Frau Menken, helfen Sie mit?“, Silvia ergriff die Initiative. Lange tatenlos herumstehen war einfach nicht ihr Ding.
„Na klaro, bin bereit!“ sie fasste unbeholfen und für die beiden völlig überraschend die Hände von Klaus und Alex, die in ihrer Nähe standen. „Ick bin Irene Menken und führ’ Sie jetzt hinab. Wird schon werden, wa? So“, sie drehte sich auf dem tiefen Untergrund mit den beiden um und ließ sich von ihnen so unterhaken, wie sie es bei Manfred beobachtet hatte, „da jeht’s abwärts. Aber schön langsam, een Schwerverletzter am Tag ist jenug!“
Das ist ein Anblick! Silvia sah der Gruppe nach, die großen durchtrainierten Männer, an den Armen der kleinen stämmigen Frau. Toll, wie sie das macht. Einfach so.
Sie sprach die zwei Blinden an, die neben ihr standen: „Wäre es in Ordnung, wenn ich Ihnen meine Hilfe anbiete?“ Sie hielt beiden ihre Hände hin und wunderte sich nur ganz kurz, dass sie nicht reagierten.
„Gerne“, sagte Tobias, „das ist sehr freundlich, dass Sie uns helfen wollen. Am einfachsten geht es für uns, wenn wir Sie unterhaken dürften, dann haben wir den besten Halt.“
„Natürlich!“, Silvia war erleichtert. Sie trat näher und berührte die Blinden mit ihren Ellbogen. Dann hakten sich Tobias links und Frank rechts ein. Zudem benutzten beide ihren Stock fast im Gleichtakt und so stapften die drei abwärts.
„Können Sie uns sagen, was genau passiert ist? Ich habe nur mitgekriegt, dass Manfred gestolpert ist, er hat uns mitgerissen und dann schrecklich geschrien. Dann die Aufregung, alle waren da und nun wird er, wenn ich es richtig verstanden habe, zu einem Rettungshubschrauber gebracht!“ Franks Stimme klang sehr besorgt.
„Mindestens das Schienbein ist gebrochen, der Knochen ist sogar durch die Haut getreten und hat eine tiefe Wunde gerissen. Sah ganz böse aus, gut, dass Sebastian verhindert hat, dass er es sich ansieht.“
„Furchtbar, gerade so ein aktiver Mann wie Manfred!“ Frank schüttelte den Kopf.
„Sie kennen sich schon lange, das hat er jedenfalls gestern Abend erzählt?“
„Ja, wir spielen zusammen Fußball. Nicht profimäßig, also ich bin nicht so gut darin, aber wir haben viel Spaß und er trainiert richtig und spielt in auch noch in einer Sehenden–Mannschaft.“
„Fußball? Wie? Fußball?“ Silvia blieb einfach stehen, was Tobias und Frank völlig aus dem Tritt brachte.
„Na, Fußball eben. Blindenfußball, fünf gegen fünf. Der Torwart kann sehen, wäre ja sonst blöde. Und Manfred ist eben in unserer Mannschaft der Torwart.“
„Und der Ball, wie finden Sie den Ball?“
„Ist eine Glocke drin. Ist eine Herausforderung, aber gerade das macht irre Spaß! Sie sollten uns mal sehen! Oder mitspielen, ich kann Ihnen eine Augenbinde besorgen!“
Nein, danke! Ich kann schon bei voller Sicht keine Mannschaftssportarten leiden.
„Ich glaube nicht, dass ich das je könnte!“
„Ich auch nicht“, meldete sich Tobias zu Wort, „ist mir zu verrückt.“
Silvia drehte sich um. Hinter ihnen kamen von Waldensrieths mit Massimo, der wild auf sie einredete.
Die haben sich einfach abseits gehalten und auch keine Hilfe angeboten, als sich Manfred verletzte. Seltsame Leute. Massimo gestikulierte wild zu Frau Menken und rief ihr zu, sie solle auf dem Weg, den sie gleich erreichen würde, warten. Dort sammelten sich die drei Grüppchen. Herr von Waldensrieth warf Silvia einen „Siehst–du–das–habe–ich–doch–gleich–gesagt“–Blick zu, den sie mit einem schnippischen Lächeln quittierte.
Massimo