John glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Lächelnd kraulte er Balu unterm Kinn, was dieser mit einem zufriedenen Brummen quittierte. Aufsehend, begegnete John einem Blick aus unergründlichen Augen. Sie strahlten und wieder verfing er sich in ihnen. Doch bevor er in ihnen versinken konnte, löste Samantha ihren Blick und wandte sich den Waschbären zu.
„Wo wart ihr zwei Schlawiner, in den letzten Tagen? Habt ihr die Gegend wieder unsicher gemacht?“ Zorro sprang von ihrem Schoß auf einen Stein und richtete sich auf seinen Hinterpfoten auf. Mit Gesten und lautem Geschnatter saß er vor ihr. Es schien John, als erzähle er ihr alle Erlebnisse
der letzten Tage. Balu sprang plötzlich von Johns Schoß und setzte sich neben seinem Bruder. Beide schnatterten und brummten jetzt im Duett und irgendwie erinnerte es John nicht an ein Gespräch sondern an - Gesang. Die beiden Waschbären wiegten sich und schnatterten in einem fort bis Samantha lachend die Hände hob. „Ich danke euch beiden. Danke, es war wirklich sehr schön.“ Als die Waschbären verstummten, streichelte sie ihnen über die Köpfe. In einer fließenden Bewegung erhob sie sich und ließ ihren Blick zum Waldrand schweifen. John folgte ihrem
Beispiel und bemerkte einen Rothirsch, der witternd zu ihnen herüber spähte. „Wer
ist das, auch ein Freund?“ Lächelnd nickte Samantha. Ehrfürchtig senkte sie ihre Stimme, als sie ihm antwortete. „Das ist Chef. Er ist der stärkste Hirsch hier im Wald. Siehst du die weißen Streifen an seiner Hinterhand?“ Als John nickte fuhr sie fort. „Daran erkennen ihn auch die Jäger. Niemand schießt auf ihn, wenn er mal das Glück hat, ihn vor das Gewehr zu bekommen. Chef ist allerdings so schlau, dass er ihnen immer aus dem Weg geht. Er zeigt sich jetzt auch nur hier, weil ich bei dir bin. Das ist für ihn das Zeichen, dass ihm keine Gefahr droht.“
„Weshalb schießen ihn die Jäger nicht? Ich meine, seine Erscheinung ist imposant.“
„Ja, für viele wäre er eine willkommene Trophäe, doch respektieren die Jäger, als Einzige, mein Verhältnis zu ihm und den anderen Tieren. Oft pflege ich zusammen mit Großvater Tiere gesund.“ Setzte sie erklärend hinzu. „Manchmal bringen der Förster und auch mal die Jagdpächter kranke oder verwaiste Tiere zu uns.
Chef fand ich eingewickelt in Stacheldraht und völlig entkräftet. Damals war er gerade drei Jahre alt gewesen. Zusammen mit Jonas habe ich ihn aufgepäppelt und wieder frei gelassen. Die weißen Streifen sind die Spuren dieser ersten Begegnung. Das Fell ist dort weiß nachgewachsen.“
„Wie alt ist er jetzt?“
„Zwölf!“
„Da warst du gerade zehn Jahre alt. Hattest du keine Angst, ich meine, ein verletztes Tier kann gefährlich werden. Mit diesen Geweihstangen kann er tiefe Wunden reißen!“
„Er, hätte mir nie etwas getan!“
Sich abwendend, schritt Samantha über die Wiese. Die Waschbären folgten immer dicht auf. John hörte ein Summen und war erstaunt, als er ausmachte woher es kam.
Samantha tanzte über die Wiese und summte eine ihm unbekannte Melodie. Dann –
sang sie.
Der glockenhelle Klang ihrer Stimme, zwang ihn in die Knie, verzauberte ihn.
Wenn du dich morgen fragst,
wozu sind wir auf der Welt?
Wenn du anfängst dich zu wundern,
wenn du wissen willst, was zählt.
Mehr als dies, mehr als jetzt und mehr als hier.
Mehr als dies, mehr als sein und mehr als wir.
Dann steh auf und geh!
Geh hinaus und sieh.
Die Welt ist voller Wunder,
du musst sie nur erkennen.
Mehr als dies, mehr als jetzt und mehr als hier.
Mehr als dies, mehr als sein und mehr als wir.
Das Lied hielt John gefangen. Ohne, dass er darauf Einfluss hatte, drang ihre Stimme tief in sein Herz und brachte dort eine verborgene Saite zum Klingen.
Die Tiere in dieser Welt,
die sie mit uns teilen müssen,
haben die gleichen Bedürfnisse wie wir.
Um zu leben, um zu sein.
Mehr als dies, mehr als jetzt und mehr als hier.
Mehr als dies, mehr als sein und mehr als wir.
Wenn du erkennst und verstehst,
dass du wie die Tiere bist.
Dann wird dein Herz sich öffnen,
wird es die Liebe finden.
Mehr als dies, mehr als jetzt und mehr als hier.
Mehr als dies, mehr als sein und mehr als wir.
Ein Rauschen erfüllte die Luft und ein großer Schatten verdunkelte den Himmel. Was John zu sehen bekam, als er aufsah, war so unwirklich, dass er es kaum glaubte. Eine riesige Schar Vögel, der unterschiedlichsten Arten, flog über ihn hinweg und umkreiste, laut trällernd Samantha und die Bären. Einige Vögel umflatterten sie weiter, während der Grossteil der Schar sich auf den umliegenden Büschen und Bäumen niederließ. Die Luft war erfüllt von Musik und Tanz.
Deine Seele schreit um Hilfe,
die Tiere dies verstehen.
Wenn die Menschen dich vergessen,
werden die Tiere mit dir gehen.
Mehr als dies, mehr als jetzt und mehr als hier.
Mehr als dies, mehr als sein und mehr als wir.
Glaub mir denn es existiert mehr als dies.
Öffne deine Sinne, dann wirst du erkennen.
Deine Seele wird heilen, das Licht erstrahlen.
Die Dunkelheit weicht und bricht.
Mehr als dies, mehr als jetzt und mehr als hier.
Mehr als dies, mehr als sein und mehr als wir.
Das strahlende, heilende Licht,
das verlieren wir nicht.
Es ist unsere Seele, unser Herz.
Es besiegt jeden Schmerz.
Mehr als dies, mehr als jetzt und mehr als hier.
Mehr als dies, mehr als sein und mehr als wir.
Wie Samantha da über die Wiese tanzte, umgeben von den verschiedensten Tieren, weckte sie in John eine Erinnerung. Ja es war, als sei die Fee von ihrem Wolf geglitten und dem Gemälde entstiegen, um hier zu tanzen.
John erhob sich und schritt wie hypnotisiert auf das Schauspiel zu. Als er sich näherte, flogen die Vögel zu den Bäumen und auch die Waschbären zogen sich zurück. Als er sich Samantha näherte, bemerkte John wie Chef mit den Hufen stampfend, sein mächtiges Geweih schüttelte. Dann drehte er sich um und verschwand im Wald.
Zurück blieben zwei junge Menschen, in denen eine Kraft zu erwachen begann. Diese Kraft, die sie eines Tages dazu befähigen würde, einen kleinen Teil der Welt
zu verändern und Mauern einzureißen.
John trat an Samantha heran und umfasste sie mit den Armen. Sie hatte noch immer ihre Augen geschlossen und stand hoch aufgerichtet da. Es schien ihm so, als würde sie auf etwas lauschen, was nur sie hören konnte. Ihr Haar umschmeichelte seinen Körper. Es strich, vom Wind getrieben, über seine Arme und in sein Gesicht. Sie fest an sich ziehend schmiegte er seinen Körper an ihren Rücken und vergrub