Rowena schnupperte. In der Nähe waren Füchse. Sie würde den Kadaver dann den Füchsen überlassen, aber zuerst brauchte sie Nahrung.
>Vielleicht geht es mir dann besser. <
Langsam und leise verringerte sie den Abstand zu den Tieren. Der Rehbock zuckte einmal zusammen, richtete seinen Kopf in ihre Richtung. Rowena blieb ganz ruhig, wartete ab, bis der Bock sich wieder auf etwas Anderes konzentrierte.
Die Ricke zuckte nervös mit den Ohren, während ihr Kitz versuchte, humpelnd in ihrer Nähe zu bleiben. Vor Schmerz schrie es gelegentlich.
>Große Mutter Erde. Ich werde es schnell von seinem Leiden erlösen. Fleisch und Knochen gehen in deinem Schoß zurück. <
Rowena vergewisserte sich, dass kein Mensch in der Nähe war, der hätte Zeuge werden können. Dann sprang sie aus ihrer Deckung, packte das Kitz, hielt ihm das Maul zu und biss ihm in die Kehle. Einige Augenblicke zuckte das arme Tier noch vor Schmerz und Schock, dann erschlaffte es.
Rowena blinzelte kurz zur Seite und registrierte, dass das Rudel geflohen war. Auch die Ricke. Sie packte das Kitz und trug es in das Unterholz. Dort saugte sie dem Tier langsam und genüsslich das Blut aus der Halsvene, bis sie satt war.
„Danke, Mutter Erde. Nun sollen auch die anderen Bewohner des Waldes noch teilhaben an deinen Gaben.“
Behutsam legte sie den Kadaver nieder, streichelte dem toten Kitz noch einmal über die Stirn und ging dann fort. Dabei nahm sie ein Halstuch aus der Jackentasche und wischte sich sorgfältig den Mund ab.
Der Vampir beobachtete lächelnd aus seinem sicheren Versteck, wie die blonde Vampirfrau ein Rehkitz schlug, es ins Gebüsch trug und sich daran labte. Er sah, wie sie nach zehn Minuten das Gebüsch wieder verließ und mit festen Schritten in Richtung Invergarry lief. Ihre Gesichtsfarbe war jetzt wieder normal, nicht mehr so blass wie vor ihrer Mahlzeit.
Er hatte gesehen, wie sich die Frau mit einem Sterblichen, einem Polizisten an dem Ort umgesehen hatte, wo er drei Tage vorher einen Menschen getötet hatte.
Sie arbeitete mit dem Mann zusammen. Eine Vampirin und ein Sterblicher. Sie hatte nicht von ihm getrunken, dabei wäre es doch so einfach gewesen. Der Sterbliche hätte kaum eine Chance gehabt.
Der Vampir knurrte leicht. Ihm gefiel die Frau. In ihm wuchs ein Verlangen, dass nichts mit seinem wachsenden Hunger zu tun hatte.
>Du wirst bald mir gehören, Frau! <
Kapitel 5: Kommunikationsschwierigkeiten
Rowena trank ihren Single Malt, schwatzte ausgelassen mit der Wirtin und Brian und flirtete ein wenig mit einigen Männern. Es ging ihr wieder richtig gut.
>Wahrscheinlich war das nur der Hunger vorhin. Da bin ich so alt und mache Anfängerfehler Ich habe einfach zu lange gewartet, bis ich mich nähre. Nicht noch einmal, Rowena! <
Plötzlich wurde es still im Pub. Rowena drehte sich zur Tür und sah ein junges Pärchen den Raum betreten. Die beiden passten so gut an diesem Ort wie ein Goldkettchen tragender Zuhälter mit Pomade im Haar in den Buckingham Palast.
Der Mann trug einen weißen Armani-Anzug und das schwarze Hemd war fast bis zum Bauchnabel offen. Auf der unbehaarten Brust blitzten zwei schwere Goldketten, an den Händen trug er goldene Ringe. Bei einem war sogar ein Diamant eingefasst. Obwohl es im Pub eher schummerig war nahm er seine teure Designer-Sonnenbrille nicht ab. Er hatte auf seinem glattrasierten Gesicht ein ekelhaftes Gewinnerlächeln.
Die Frau an seiner Seite sah aus, als wäre sie einem Katalog für Super-Models entsprungen Groß und schlank, beinahe magersüchtig. Die Brüste standen unnatürlich und ohne BH spitz nach vorn und der Ausschnitt ihres Tops betonte das auch noch. Ihre langen, glatten Haare waren blondiert, am Ansatz konnte man schon die ursprüngliche Farbe erkennen. Mausbraun. Die Augenbrauen waren komplett weg und mit einem Augenbrauenstift unnatürlich nach gemalt Die künstlichen Fingernägel waren in einem schreienden rot lackiert und überall hing teurer Schmuck.
Zu viel. Zu groß. Zu auffällig.
„Weniger ist mehr“, brummte ein männlicher Gast und schüttelte sich merklich. Dann grinste er zu Rowena und zwinkerte ihr zu. Rowena schmunzelte leicht, freute sich, dass ihr natürlicher, ungeschminkter Look offensichtlich besser ankam als der der Primadonna.
„Ein Bier, gute Frau“, brüllte Mr. Armani durch den Pub. „Und für mein Mäuschen einen Weißwein.“
Rowena drehte sich rasch um und schlug ihre Hand vor den Mund, um nicht laut loszubrüllen. >Mäuschen? <
Brian sah sie belustigt an. „Keine Sorge, Rowena. Du hast deutlich mehr Klasse, als das da!“, sagte er laut und deutlich.
Rowena kicherte. „Danke, Brian. Aber ich will mich gar nicht mit jemanden vergleichen Ich bin wie ich bin. Und bin damit sehr zufrieden.“
Neben Rowena stand ein weiterer Gast. Der Mann war etwa Mitte zwanzig, hatte braune Haare und braune Augen. Er beugte sich zu Rowena hinüber. „Wenn man die Frau in den Armen hält, fängt man sich nur Splitter ein, so knochig wie die ist. Du dagegen bist … einfach lecker.“
Rowena schenkte dem jungen Mann ein aufreizendes Lächeln. „Vielen Dank.“
Hoffnung schimmerte in den Augen des Mannes, aber Rowena zog ein bedauerndes Gesicht. „Ich weiß Komplimente sehr zu schätzen, mein Freund. Aber ich bin nicht zu haben. Tut mir leid.“
Der junge Mann seufzte. „Der Glückspilz. Hoffentlich weiß er das zu würdigen.“
Rowena widmete sich wieder ihrem Single Malt. Warum hatte sie das offensichtliche Interesse des jungen Mannes zurückgewiesen?
>Sex hat irgendwie seinen Reiz verloren! <, stellte sie erschüttert fest. Sie kippte ihren Whisky hinunter und drehte sich wieder zu dem Pärchen um, das jetzt an den Tresen getreten war. Vorsichtig tauchte sie in die Gedanken der beiden ein, konnte aber nur BlaBla und andere Oberflächlichkeiten feststellen. Also drang sie etwas tiefer in die Gedanken der Frau, doch da war nichts. Schlichtweg nichts. Hohlraum.
>Jetzt weiß ich, dass manche Vorurteile gegenüber schönen, aufgedonnerten Frauen absolut berechtigt sind! < Rowena verkniff sich ein gemeines Grinsen.
>Vielleicht sollte ich Barbra gegen die hier austauschen! <
Rowena empfing den Gedanken des Mannes und sah ihm direkt in die Augen. Kalt, berechnend und lieblos grinste er sie an. Dabei versuchte er charmant zu wirken.
>Eigentlich sollte mir die Frau leidtun<, dachte Rowena. >Aber sie wollte offensichtlich das Ganze. Nun muss sie auch die Konsequenzen tragen. <
Rowena wendete ihren Blick von dem Mann ab, bestellte sich noch einen Whisky. Dabei sondierte sie aber weiterhin die Gedanken des Mannes. Dieser Mann war jedoch nicht der gesuchte Vampir und stand auch in keiner Verbindung zu dem Täter. Er war einfach nur lästig.
„Ich wusste gar nicht, dass dieses Kaff eine Dorfschönheit hat.“
Rowena verschluckte sich beinahe an dem edlen Getränk, als Mr. Armani in ihr Ohr säuselte. Teures, aber aufdringliches Aftershave drang in ihre Nase.
>Ich ignoriere ihn besser. < Sie widmete sich ihrem Drink und setzte zu weiteren Gesprächen mit Brian an. Im Augenwinkel bemerkte sie den deutschen Touristen, der an einem der Tische saß und sie und die gesamte Situation zu beobachten schien.