Ohne mich. Hanna Goldhammer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanna Goldhammer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738078121
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und ich hatte das Gefühl ich würde den nervigen Klingelton noch sehr viel länger aushalten müssen, wenn ich nicht endlich ans Handy ginge. Mich über den Klingelton zu beschweren, den ich mir selbst ausgesucht hatte war eigentlich nicht wirklich sinnvoll, aber manchmal regte ich mich einfach gerne über alles Mögliche auf. So wie jetzt. Also was jetzt, sollte ich ans Handy gehen oder nicht? Ich entschied mich dafür. Ich war ein guter LKW-Fahrer, oder zumindest war ich gut genug, um mich von einem kurzen Telefonat nicht derart aus der Ruhe bringen zu lassen, dass irgendetwas passieren würde, davon war ich überzeugt!

      „Was gibt es denn?“, fragte ich meinen Anwalt und bemühte mich möglichst genervt, wegen der ständigen Anrufe zu klingen.

      „Stimmt es, dass ihre sechsjährige Tochter einmal fast an einem allergischen Schock gestorben wäre, als sie die Aufsichtspflicht für sie hatten?“, brüllte mein Anwalt ins Telefon.

      „Das war doch nicht meine Schuld!“, verteidigte ich mich, „Niemand wusste, dass Lilly-May eine Erdnussallergie hat. Das hätte genauso gut passieren können, als Christiane auf sie aufgepasst hatte!“

      „Und wieso sind Sie mit Ihrer Tochter erst nach einer halben Stunde ins Krankenhaus gefahren? Und vor allen Dingen wieso weiß ich von dem Vorfall nichts?! Ich habe behauptet Sie hätten sich als sorgender Vater nie etwas in irgendeiner Weise zu Schulden kommen lassen und dann erfahre ich das!“

      „Ich bin erst nach einer halben Stunde mit ihr ins Krankenhaus gefahren, weil ich unter der Dusche stand als sie den Müsliriegel mit den Erdnüssen gegessen hat. Ich konnte ja nicht ahnen, dass meine Tochter gerade dabei ist an einem allergischen Schock zu sterben! Außerdem haben wir es noch rechtzeitig ins Krankenhaus geschafft und es ist alles gut gegangen. Ich versteh gar nicht wo Ihr Problem ist. Oder vor allem wo Christianes Problem ist. Lilly-May geht es doch gut! Wieso muss Christiane jetzt wieder mit dieser alten Geschichte ankommen?“, fragte ich empört.

      „Wieso sie mit der alten Geschichte ankommt? Das kann ich Ihnen genau erklären! Sie möchte Sie als eine Gefahr für die Kinder darstellen, um das alleinige Sorgerecht zu bekommen! Und im Moment sieht es gar nicht mal so schlecht aus. Wieso sind Sie eigentlich nicht sofort an Ihr Handy gegangen?“, wollte der Anwalt jetzt wissen, neugierig wie er nun einmal war.

      „Weil ich LKW-fahren muss!“, antwortete ich gereizt.

      „Sie telefonieren während Sie LKW fahren? Um Himmels Willen! Legen sie sofort auf und schauen sie auf die Straße!“, beendete der Anwalt hastig das Telefonat und legte auf bevor ich es tun konnte.

      Ich legte mein Handy weg und als ich wieder aufblickte blieb mir fast das Herz stehen. Für einen kurzen Moment hätte ich schwören können, die Ampel vor mir wäre Rot. Und für einen kurzen Moment hätte ich schwören können, ein Mädchen, das die Straße überqueren wollte, direkt vor mir zu sehen. Aber da war niemand. Die Straße war leer und die Ampel war grün. Alles war gut. Und mit einem Mal war ich nicht mehr schlecht drauf. Mit einem Mal war ich dankbar für mein Leben, so wie es war. Denn mit einem Mal wusste ich, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können.

      Sabrina: Tag 0

      „Na siehst du!“, rief ich erleichtert, „Dem LKW-Fahrer geht es so viel besser! So muss er nicht das ganze Leben lang damit klar kommen, einen Unfall verursacht zu haben bei dem jemand gestorben ist!“

      „Da hast du Recht“, nuschelte Lotte mit dem Mund voller Popcorn, „Aber bevor du voreilige Schlüsse ziehst, was deinen echt fragwürdigen Wunsch angeht, sollten wir uns anschauen wie es den anderen geht, oder? Wen willst du als nächstes sehen?“

      „Meine Mutter“, antwortete ich nach kurzem Überlegen.

      Lotte sah mir an, dass es mir nicht ganz wohl dabei war, deshalb versuchte sie mir ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, was jedoch wegen des ganzen Popcorns in ihrem Mund gründlich schief ging. Sie sah ein wenig aus wie ein grinsender Hamster. Dieser Gedanke wiederum, brachte mich dann tatsächlich zum Lachen. Jetzt war ich, so glaubte ich, bereit meine Mutter zu sehen. Ihr ging es mit Sicherheit gut!

      Mutter: Tag 0

      Oh Gott die Schoko Muffins! Um ein Haar hätte ich sie im Ofen vergessen! Blitzschnell sprang ich vom Sofa auf, rannte in die Küche, riss die Ofentür auf, zog das Blech Muffins heraus und prüfte kritisch ob sie noch genießbar aussahen. Sie waren schwarz. Zum Glück jedoch nicht schwärzer als es für Schoko Muffins nun mal üblich war. Es war also gerade noch einmal gut gegangen! Eine Katastrophe wäre es gewesen, wenn die Muffins die ich extra für Tom, der uns am Wochenende endlich mal wieder besuchen wollte, gebacken hatte, verbrannt wären! Wo es doch seine Lieblings-Muffins waren! Schon als kleines Kind hatte er sie von allem was ich backte, am liebsten gegessen. Aber inzwischen war er erwachsen. Auch wenn ich es manchmal nicht fassen konnte, dass aus meinem kleinen Jungen inzwischen ein erwachsener selbstständiger Mann geworden ist. Mein Mann und ich konnten so stolz auf ihn sein! Mit seinen 20 Jahren war er schon so vernünftig und hatte bereits ein Stipendium an einer äußerst renommierten Universität. Wenn er uns morgen endlich einmal wieder besuchen käme, würde er uns vielleicht auch endlich seine Freundin vorstellen. Der Gedanke, dass er bereits vor zwei Jahren von Zuhause ausgezogen war, um bei ihr zu wohnen, sie uns aber noch immer nicht vorgestellt hatte, machte mich ein wenig traurig. Aber ich konnte ihn irgendwie verstehen, seine Freundin kam einfach aus einer anderen Welt.

      Ich schaltete das Radio an und begann jeden einzelnen Schoko Muffin zu verzieren. Es machte Spaß und ich brauchte schließlich eine Beschäftigung, wenn mein Mann so gut wie nie Zuhause war und ich gerade einmal nicht in der Suppenküche arbeitete. Auch wenn nicht immer alles einfach war, war ich glücklich mit meinem Leben. Ich glaubte das Beste daraus gemacht zu haben und ich hatte noch nicht verlernt mich auch an den Kleinigkeiten zu erfreuen. Meine beiden Katzen zum Beispiel, zauberten mir noch immer jeden Tag ein Lächeln auf die Lippen. Und wie ich so in der Küche stand, die Schoko Muffins verzierte, fröhlich vor mich hin trällerte, und mein Leben genoss, wurde plötzlich die Radiomusik für eine Sondermeldung unterbrochen. Ein schweres Zugunglück hatte sich vor kurzem ereignet. Ganz hier in der Nähe. So wie es aussah gab es viele Tote. Ich war kurz davor zu Gott zu beten und ihn zu bitten die armen Seelen der soeben Verstorbenen wohl bei sich aufzunehmen. Doch dann hielt ich mich zurück, denn ich betete nicht. Es war eine Gewohnheit von früher, als ich noch gläubig war, doch seit meiner Fehlgeburt vor sechzehn Jahren hatte sich einiges geändert. Ich betete nicht mehr, denn ich war nicht mehr in der Lage an einen Gott zu glauben. An einen Gott der solche furchtbaren Dinge zulassen konnte.

      Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, als es plötzlich an der Tür klingelte. Ich war fast ein wenig dankbar dafür, denn ich begann schon wieder sentimental zu werden. Trotzdem fragte ich mich, wer denn um diese Uhrzeit bei mir klingeln sollte. Das tat sonst auch niemand. Seltsam. Als ich dann den Flur entlang auf die Tür zuging, glaubte ich sogar durch das große Glasfenster an der Tür die schemenhaften Umrisse zweier Polizisten erkennen zu können. Sehr seltsam. Doch als ich dann die Tür öffnete war da nichts. Nichts und niemand war weit und breit zu sehen. Also hatte ich mir das Klingeln und die Polizisten nur eingebildet? Noch viel seltsamer, aber auch irgendwie gut so. Es wäre sicher kein gutes Zeichen gewesen, wenn auf einmal Polizisten vor meiner Tür gestanden hätten. Also schloss ich die Tür wieder und lief kopfschüttelnd zurück in die Küche, um dort weiter die Muffins zu verzieren.

      Sabrina: Tag 0

      Lotte hielt das Bild an, das genügte fürs Erste. Ich verarbeitete kurz das, was ich soeben gesehen hatte. „Im Großen und Ganzen scheint sie doch ziemlich glücklich zu sein!“, fasste ich schließlich zusammen, „Zumindest glücklicher als sie es war, nachdem sie von meinem Tod erfahren hat.“

      „Aber ist sie auch glücklicher, als sie es gewesen ist bevor du gestorben bist?“, fragte Lotte prüfend.

      „Das kann man doch gar nicht vergleichen!“, antwortete ich nach kurzem Überlegen, „Sie ist jetzt ganz anders. Ihr ganzes Leben hat sich verändert! Ich meine auf einmal hat sie zwei