Ohne mich. Hanna Goldhammer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanna Goldhammer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738078121
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Seine kleine Schwester, die ihm andauernd die letzten Schoko-Cookies wegaß. Seine kleine Schwester, die ständig ungefragt in sein Zimmer ging. Jetzt wünschte er sie wäre hier bei ihm in seinem Zimmer. Jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher, als seine kleine Schwester fest und schützend in den Armen halten zu können. Einen Wunsch, den er bis jetzt noch nie verspürt hatte. Schade eigentlich.

      Laura Müller, meine beste Freundin erfuhr es aus der Zeitung. Besser gesagt Lauras Eltern erfuhren es aus der Zeitung und versuchten es dann Laura schonend beizubringen. Ein Versuch der kläglich scheitern sollte.

      „Warum behauptet ihr so etwas?!“, schrie Laura und versuchte die Tränen zurück zu halten. Sie war von dem Stuhl aufgesprungen, auf den sie sich hatte setzen sollen. „Das ist nicht wahr! Das ist ein schlechter Scherz. Findet ihr das etwa witzig?!“ Laura war kurz davor durchzudrehen. Sie wollte die beruhigenden Worte der Eltern nicht hören. Sie wollte den Zeitungsartikel nicht lesen. Viel lieber wollte sie in ihr Zimmer rennen, die Tür zu schlagen und sich auf ihr Bett werfen. Das tat sie dann auch. Irgendwann beschloss Laura bei mir Zuhause anzurufen. Aber die Hoffnung meine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören, wurde enttäuscht. Mit jedem Freizeichen wurde Laura nervöser. Normal war ich immer in Sekundenschnelle am Telefon. Und wenn nicht gingen meine Eltern oder mein Bruder ran. Aber heute nicht. Das ungute Gefühl war wie ein schwerer Stein in Lauras Magengrube. Als die Frau vom Anrufbeantworter sie schließlich dazu aufforderte eine Nachricht nach dem Piepton zu hinterlassen, überkam Laura mit einem Mal die traurige Gewissheit, dass ihre Eltern die Wahrheit gesagt hatten. Lauras beste Freundin, ich Sabrina Zenglein, war vor einem Tag verstorben. Es tat weh.

      Jetzt war ich hier. Gerne würde ich euch mehr über den Ort, an dem ich mich nun befand, erzählen, aber ich wusste nichts. Weder wo ich war, noch was ich hier machte. War das hier der Himmel? Das Paradies? Existierte dieser Ort hier überhaupt wirklich, oder bildete ich mir das hier nur ein? Ich blickte mich um. Alles war weiß. Ein klares, kaltes Weiß. Es strahlte nicht die Wärme oder den Glanz aus, den man womöglich erwartete, wenn man an den Himmel dachte. Rings um mich herum war nichts! Es erstreckte sich die unendliche Leere. Kalt, weiß, leer – den Himmel hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt, auch wenn ich ja eigentlich nicht an ein Leben nach dem Tod geglaubt hatte. Erst jetzt entdeckte ich ein ganzes Stück von mir entfernt einige Menschen. Ziemlich viele sogar! Waren sie alle tot? Ich kam ein wenig näher. Jetzt erst erkannte ich, dass all diese Menschen in einer Reihe standen. Sie standen an, wie in einer Supermarktschlange. Aber worauf warteten sie? Da ich nicht wusste wie das alles hier weitergehen sollte, stellte ich mich einfach hinten an. Ich konnte nicht einschätzen wie lange ich warten musste. Gab es im Himmel überhaupt Zeit? Oder in der Hölle? Seltsamerweise bereitete mir der Gedanke an die Hölle nicht die geringste Angst. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich eigentlich überhaupt nichts Negatives fühlte, ich war einfach glücklich. Mir war bewusst, dass ich nie wieder in mein Leben zurückkehren würde, dass ich tot war, endgültig! Doch das fühlte sich richtig an. Wurden meine Gefühle von diesem wundersamen Ort manipuliert? Wenn das der Fall war, war die Manipulation nicht gut genug, um die schwere Leere die ich fühlte, wenn ich an meine Familie und Freunde dachte, mit Glück und Zufriedenheit zu füllen. Da war einfach nichts.

      Irgendwann, ich kann nicht sagen, ob wenige Minuten oder sogar mehrere Stunden vergangen waren, war ich an der Reihe. Was auch immer das zu bedeuten hatte. Ich stand nun ganz vorne in der Schlange. Schräg vor mir war ein großes Tor. Wohin es führte konnte ich nicht sagen. Doch ich vermutete, dass man, bevor man das Tor passieren durfte, mit der kleinen, etwas älteren Frau, die vor mir etwas erhöht hinter einem hohen Pult saß, reden musste. Ein wenig erinnerte es mich an die Anmeldung in einem Hotel. Checkte ich hier in den Himmel ein? Aber in einem Hotel begegnete man sich für gewöhnlich auf Augenhöhe. Die kleine, etwas ältere, bebrillte Frau schien es zu genießen ihren Gegenübern ein Stück überlegen zu sein. Sie wirkte ziemlich gestresst. Ob sie deshalb so graue Haare hatte? Diese Frage führte mich gleich zur nächsten. Waren graue Haare nicht etwas Menschliches? Was aber war sie? Ein Mensch? Ein Engel? Naja, wie ein Engel sah sie ja nicht gerade aus! Dafür fand ich ihren Namen umso passender: Lucrezia Eisbein. So stand es zumindest auf dem kleinen goldenen Schildchen, das an ihrem Blazer befestigt war. Ich fragte mich, ob der Name wirklich echt war oder ob sie einen neuen, so passenden Namen bekommen hatte.

      „Name?“, fragte die kleine, bebrillte Frau schroff. Eigentlich war es viel mehr ein Befehl als eine Frage. Erst jetzt, als ich völlig überrumpelt erst einmal schwieg, blickte die kleine, grauhaarige Frau von der Liste auf, die vor ihr lag.

      „Du wirst doch wohl wissen wie du heißt!“, fuhr sie mich unfreundlich an, „Wir haben hier nicht den ganzen Tag Zeit!“ Somit wäre die Frage, ob es an diesem Ort Zeit gab, geklärt.

      „Sabrina Zenglein“, stotterte ich verlegen.

      Mit einem Stift in der Hand ging die kleine, unfreundliche Frau die Liste von Oben nach Unten durch. Dann wieder von Unten nach Oben, als würde sie vergeblich nach etwas suchen.

      „Geburtsdatum?“, fragte sie nicht weniger unfreundlich.

      „12.04.1999“, antwortete ich und bemühte mich selbstbewusst zu klingen.

      Erneut wanderte Lucrezia Eisbeins Stift von Oben nach Unten, doch dieses Mal stoppte sie plötzlich und ihre Miene hellte sich auf. Kurz schrieb sie etwas hin, vielleicht machte sie auch nur einen Haken oder ein Kreuz, dann wandte sie sich erneut an mich.

      „Wunsch?“

      „Wunsch?“, fragte ich verwundert zurück.

      „Was ist dein Wunsch?“, fragte die kleine, ungeduldige Frau und versuchte noch nicht einmal den genervten Unterton zu verbergen.

      „Ich habe einen Wunsch frei?“, fragte ich erstaunt.

      Vielleicht war die Frau weder Mensch noch ein Engel, sondern ein Flaschengeist. Äußerlich betrachtet fände ich die Bezeichnung „Geist“ durchaus passend. Dagegen sprach jedoch, dass ich mich nicht daran erinnern konnte, an einer Wunderlampe gerieben zu haben. Außerdem hätte ich dann wohl drei Wünsche und nicht bloß einen verdient!

      „Hat David Rottmann noch nicht mit dir geredet?“, fragte die kleine, etwas ältere, bebrillte Frau und zum ersten Mal glaubte ich so etwas wie Mitgefühl in ihrem Gesicht erkennen zu können.

      „David Wer?“, fragte ich verwirrt. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung wer das sein sollte und ich hatte auch noch immer nicht die leiseste Ahnung wo ich hier war. Doch eins stand fest: Die Organisation hier war nicht gerade die Beste! Fast wie auf der Erde.

      „Das muss an dem ganzen Stress liegen!“, rief die kleine Frau nun fast verzweifelt, „Ein so schweres Zugunglück mit so vielen Toten kommt nicht alle Tage vor, da muss David Rottmann schlichtweg vergessen haben, dass du auch noch da bist.“

      Ich hatte zwar immer noch nicht die geringste Ahnung was hier vor sich ging, doch zumindest wusste ich nun, dass das nicht meine Schuld war, sondern die eines gewissen David Rottmanns!

      „Ich werde David so schnell wie möglich zu dir schicken!“, versicherte Lucrezia, die nun gar nicht mehr so streng wie eine Lucrezia aussah, „so lange kannst du dort hinten auf ihn warten.“

      Lucrezia deutete auf ein etwa fünf Meter entfernt stehendes grünes Sofa. Ich hätte schwören können, dass es zwei Sekunden vorher noch nicht dagestanden hat! Es erinnerte mich an die Sofas, die man in den Leseecken fast jeder Bibliothek finden konnte. Außenherum war jedoch alles weiß und kahl, wie überall hier. Während ich auf diesen David Rottmann oder wie er hieß wartete, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Warum war ich nicht traurig? Ich war tot, ich würde meine Familie, meine Freunde vielleicht nie wiedersehen und dennoch war ich nicht traurig. Dieser Ort hier war eigenartig. Ich dachte daran wie beruhigend es für die Menschen wäre zu wissen, dass es den Toten hier gut ging. Dass dieser Ort glücklich machte, ob man es wollte oder nicht. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass es auf der Erde nicht so war. Auf der Erde spürte man alle diese negativen Gefühle, die Trauer, die Verzweiflung, Angst, Ungewissheit und Schmerzen. All das fühlten die Menschen. Und ich wollte nicht, dass meine Familie oder Freunde das fühlten. Sie sollten nicht um mich trauern. Sie sollten nicht weinen oder verzweifeln. Ich wünschte sie wüssten, dass