»Ich höre, Herr Doktor«, antwortete er ohne Gruß.
»Ihre Frau hat die Operation gut überstanden. Wir haben einige Stents eingesetzt. Es ist alles stabil. Dennoch bleibt ihr Zustand unverändert kritisch. Aber im Moment brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen!«
»Egal, ich komme«, sagte er, ohne sich genauer zu erkundigen.
»Das ist möglich, aber nicht nötig. Schlafen sie sich lieber aus! In einigen Stunden ist es die gleiche Situation.«
»Nein, ich komme!«
»Nein, Papa. Du musst ausruhen!«, schaltete sich unerwartet Linda ein, die aufgewacht war.
Verwirrt sah er sich um.
»Meinst du?«
Der Arzt, der Lindas Vorschlag offenbar mitbekommen hatte, sagte am anderen Ende der Leitung:
»Hören Sie auf Ihre Tochter!«
Er war dermaßen überrascht, dass er sofort einwilligte. Er legte das Handy auf den Tisch und sagte zu seiner Tochter:
»Erst schlafen wir, dann besuchen wir Mama!«
Linda warf sich auf ihn. Er umarmte sie. Das Leben war zurückgekehrt. Er legte das Mädchen auf seine Schultern, stand auf und sagte:
»Ich bringe dich wieder ins Bett.«
Das Mädchen sah die geöffnete Balkontür, streckte ihren Kopf nach oben und forderte ihren Vater auf:
»Ich will auf den Balkon!«
Bevor der Vater auf den überraschenden Wunsch reagieren konnte, rutschte sie aus seiner Umklammerung und rannte zum Balkon.
»Pass auf!«
Er folgte sofort und nahm sie an die Hand.
»Hochheben!«, bat sie, als sie am Geländer standen.
»Du kannst hier durch den Spalt gucken«, führte Gert den Kopf des Mädchens an die Öffnung.
»Hochheben!«
»Ich habe Angst, Linda. Wenn ich hier stehe, muss ich an euren Sturz denken!«
»Papa, bitte!«, flehte sie ihren Vater an, der sie hilflos anblickte. In der Dunkelheit sah er ihr Gesicht nur schemenhaft, doch ihr verlangender Blick erstickte jede Gegenwehr.
Er hob sie hoch. Sie starrte bewegungslos in die Tiefe und sagte nichts. Für Gert war es eine gespenstische Situation, die ihn total verunsicherte. Linda starrte weiterhin, ohne die Richtung zu verändern, nach unten. Gerts Unbehagen steigerte sich. Er fühlte sich zunehmend hilfloser. Seine Tochter schien in eine andere Welt abgetaucht zu sein. Umso überraschter war er, als sie plötzlich den Kopf ruckartig nach hinten drehte.
»Was ist los, hast du etwas gehört?«
Er blickte ebenfalls in ihre Richtung.
Linda antwortete nicht, weil sie selbst nicht wusste, warum sie den Kopf gedreht hatte.
Gert nutzte die Gelegenheit, um vom Geländer wegzukommen. Er ging in die Mitte des Balkons und wippte seine Tochter. Beide beruhigten sich und genossen die innige Verbindung.
»Ich will runter!«, bat sie nach einiger Zeit ihren Vater, der sie auf den Boden stellte.
»Komisch!«
Linda stand vor dem Balkontisch.
»Was ist komisch?«
Gert eilte sofort zu ihr hin.
Das Mädchen starrte auf den Aschenbecher, der auf dem Tisch stand. Das abgedimmte Licht des Wohnzimmers beleuchtete ihn spärlich. Clara hatte ihn von einer Dienstreise mitgebracht. Er gefiel ihr so gut, dass sie manchmal sagte, dass er zu schön sei, um ihn zu benutzen. Dennoch benutzte sie täglich das getöpferte, kunstvoll verzierte Mitbringsel. Das ausladende, runde Prachtexemplar stand auf einem viereckigen Teller, dessen Ecken nach oben geformt waren. Der Aschenbecher selbst bestand aus zwei Teilen, einer Schale, in der sich ein beweglicher Einsatz befand. Darin drückte Clara die gerauchte Zigarette gewohnheitsmäßig aus und hob ihn sofort an, damit Asche und Kippe in der Schale verschwanden. Sie konnte den kalten Rauch nicht riechen. Sie leerte jeden Abend die Schale in der Hoffnung, dadurch ihre Sucht endgültig begraben zu können.
»Ja, das ist komisch! Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie schon einmal vergessen hätte, die Zigarette wegzudrücken«, konstatierte Gert.
»Da war Mama aber schlampig!«, kommentierte Linda die Beobachtung.
»Wir verändern nichts, bis Mama wiederkommt!«, sagte sie, ohne den Sinn der Aussage zu begreifen.
»Okay«, willigte ihr Vater ein, »die Zigarette liegt so tief, dass sie der Wind nicht wegblasen kann. Jetzt wird geschlafen!«
Er schnappte sich Linda. Nachdem er sie ins Bett gebracht und zugedeckt hatte, forderte Linda:
»Beten, Papa!«
Bevor er antwortete, hob sie die Bettdecke und lud ihn ein:
»Kuscheln, Papa!«
»Klar, das machen wir wie immer.«
Er legte sich ganz dicht neben Linda, die auf der anderen Seite Friedi drückte. Gemeinsam sprachen sie.
»Komm, kuschel dich ganz nah an mich,
dann spürst du mich und ich spür dich.
Genauso nah wie du bei mir,
so ist der liebe Gott bei dir.
Und ich weiß ...
ganz genau wie mich,
so liebt Gott - auch dich.«
»Und Mama!«, ergänzte sie lautstark das auswendig gelernte Gebet.
Kapitel 4
»Zur Sache, bitte!«, eröffnete Hauptkommissarin Helene Krautkopf mit einem Schmunzeln im Gesicht die Beratung, an der ihr Assistent Jens Knospe sowie Kommissar Volker Strathmann teilnahmen. Jens, der seit zwei Wochen zum Team gehörte, wunderte sich nicht mehr über die Marotte seiner Chefin, jede Besprechung mit »Zur Sache, bitte!« zu beginnen. Das war das eindeutige Signal an alle, sie augenblicklich auf den aktuellsten Stand der Ermittlungen zu bringen. Dieses Mal hatte er das Vergnügen, das zu tun. Er war nervös, weil er am Vortag zum ersten Mal eine Untersuchung geleitet hatte. Umständlich überprüfte er nochmals die Notizen, um nichts zu vergessen. Daraufhin blickte die Hauptkommissarin ihn ungeduldig.
»Sie sind heute so unkonzentriert. Was ist los, junger Mann? Oder gibt es nichts zu berichten?«
»Doch, doch, einen Moment, ich komme gleich zur Sache.« Er lief rot an und schüttelte sich einmal kräftig.
»Es gibt einen Zeugen, der den Sturz sah. Den Aufprall der Mutter mit ihrem Kind beobachtete er aus etwa fünfzehn Meter Entfernung. Allerdings konnte er nicht sagen, wie es geschah. Der langgezogene Schrei eines Kindes aus einem der oberen Stockwerke hatte ihn auf dem Nachhauseweg aufgeschreckt. Als er nach oben blickte, fielen die beiden gerade über die Brüstung.
»Was genau hörte er?«, fiel ihm Helene ins Wort.
»Das Mädchen rief den Namen Friedi. Bei der Protokollaufnahme wurde Dirk Schnabel, so heißt der Zeuge, regelrecht hysterisch. Er hielt sich die Hände vor die Ohren und sagte erregt: >Ich kann´s nicht mehr hören, diesen fürchterlichen, schrillen Schrei! Friediiiiiiiii!<, schrie er. Daraufhin sackte er, schwer atmend, in sich zusammen. Es dauerte lange, sehr lange, bis sich der traumatisierte Mann beruhigt hatte.«
»Mmh, Friedi? ... Das ist doch das Kuscheltier des Mädchens, ein flauschiger Dackel!«, sprach Helene mit voller Überzeugung.
»Häh...«
Jens