Als Revolutionstourist, bis vor fünfundzwanzig Jahren, bin ich voll aufgelaufen: Die Masse scherte sich einen Dreck um die Zukunft und das Kapital ist bis an die Zähne bewaffnet. Ganz schöne Träumer waren wir, die Wenigen, die sich die Zeit genommen hatten, einige Jahre ihres Lebens zu opfern, um den Mächtigen auf den Zahn zu fühlen und: War richtig gnädig von denen, uns Radikale nicht für immer von der Bildfläche verschwinden zu lassen.
Als Architekt war ich zu spät dran, weil es heute keinen sozialen Wohnbau mehr gibt … aber halt, so kurz vor Ende meines Tagebuchs keine negativen Botschaften! All dies musste kommen, wie es gekommen war! Auch wenn ich nicht an Schicksal glaube, jeder bekommt das, was er erträgt. Ich ertrage kein Quäntchen mehr und werde deshalb gehen.
Es ist alles vorbereitet!
Irgendwie bin ich doch nicht ganz immun gegen die Trauer, die brutal durch mein Hirn fetzt, wenn ich daran denke, dass ich Timea nie mehr sehen werde. Schwer zu sagen, für wen von uns beiden es härter sein wird. Ich glaube, unser Verstand hat noch nicht kapiert, wie er mit dieser Extremsituation zurechtkommen soll.
Mein Implantat piept, während ich über diese Sache sinniere, sie ist dran.
Meine Liebe: Timea!
»Ich habe mit Pearl gesprochen!«
»Was sagt sie?«
»Wir kriegen die Location.«
»Du bist die Beste; ich hätte das nie geschafft.
Wie viel will sie dafür?«
»300 neue Euro.«
»Ist ja geschenkt. Läuft alles wirklich recht gut in letzter Zeit.«
»Du-u?«
»Was denn?«
»Mein Herz zerreisst!«
Wieder die Gänsehaut. »Ich hab dir doch gesagt: Wenn es soweit ist, stopf ich dich mit Drogen voll. Du wirst 3 Tage lang schlafen, und anschließend ist ja Bo für dich da. Bo ist ein guter Mensch – ein besserer als ich. Er liebt dich wirklich und würde dich nie verlassen so wie ich.«
»Ich würde so gerne mit dir gehen und gleichzeitig auch wieder nicht.«
Sie sprach mit leiser Stimme, in der ich dieses zermürbende Vibrieren fühlen konnte. Es war hart, aber ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich würde gehen. In einer Woche!
Meine Trauer darüber, die Erde und dieses Leben zu verlassen, vermischt sich mehr und mehr mit dem überragenden Gefühl, wahrlich Großes erreicht zu haben. Aus einer für Normalsterbliche absurden Idee entstanden Fakten, entstand die Realisierung dessen, was ich selber für unmöglich gehalten hatte: Die Möglichkeit eines zweiten Lebens, meines zweiten Lebens!
In einer Woche, an meinem fünfzigsten Geburtstag, würde ich bewusst aus dem Leben treten und eine subjektive Nichtigkeit später mein zweites, extraterrestrisches Leben beginnen. Oder auch nicht. Ich verließ mich wie so oft in meinem Leben auf mein Glück. Oft hatte ich Erfolg mit dieser Strategie gehabt.
Das wichtigste war jetzt, das ich mich nicht auf Gefühlsduselei einließ. Ich wollte eine gediegene Abschiedsparty für meine besten Freunde vorbereiten und hatte mir dafür eine alte Burgruine hoch über der Donau ausgesucht, direkt über einer Schleife des Flusses, ein Symbol für Haltbarkeit und Vergänglichkeit zugleich.
Haltbar deshalb, weil sie immerhin fast tausend Jahre den Angriffen von Feinden, Wind und Wetter getrotzt hatte, Vergänglichkeit, weil trotz allem in den Mauerfugen und allen möglichen Ritzen Büsche und Bäume wurzelten und früher oder später diesen Steinhaufen besiegen würden.
Ich finde, das passt zum Thema.
Mit Timea hatte ich vereinbart, dass wir uns nicht mehr sehen würden. Wir hatten uns alles gesagt. Das, was kommen würde auszuwalzen, konnte nur wehtun.
Die nächsten Tage bin ich damit beschäftigt, mein offizielles Leben aufzulösen.
Erst so merke ich, wie verfahren die Situation für diejenigen ist, die aus dem Leben treten wollen, ohne den Hinterbliebenen einen organisatorischen Saustall zu hinterlassen. Während ihnen einerseits die heftigsten metaphysischen Fragen durch den Kopf gehen, müssen sie sich andererseits mit den profansten Dingen herumschlagen:
Sind meine Konten geschlossen?
Ist der Steuerberater bezahlt?
Wird sich meine Katze in ihrem neuen Zuhause wohl fühlen?
Habe ich meine Web-Abos abbestellt?
etc.
Ich lasse hier eine Lücke in meinem Tagebuch, die letzten Tage sind nur für mich.
Ich werde atmen, singen, mich an Erlebtes erinnern, die Dinge essen, deren Geschmack mich an Tage erinnert, an denen ich mich nicht fragen musste, was ich hier eigentlich zu schaffen habe. Und ich werde, hoffentlich nicht zum letzten Mal tanzen - für mich die einzige Möglichkeit, nicht über den ganzen Schlamassel nachdenken zu müssen.
Erstes Leben, Tagebuch Ende!
3 Zweites Leben, Universum, 1360 ZENzeit
Normalerweise bereiste niemand mehr das Universum. Die Trads, also jene, die sich im Kälteschlaf nicht modifizieren haben lassen, bevorzugten die Zeitschleifen. Manchmal hielt man sich auch in den Zeitnebeln auf. Trads hassten das Universum jenseits dieser zeitneutralen Zonen, in dem alle so schnell alterten. Dorthin schickte man höchstens Leute wie Sid, die von niemandem verstanden wurden. Und natürlich die Turnus-Patroullien: Jeder Kommandant musste ein bis zweimal in seiner Karriere da rein, auch wenn er damit rechnen musste, dreifach so schnell zu altern wie in den Zeitschleifen.
Kommandant Plistulh war gut vorbereitet auf seine Aufgabe gewesen. Nur ja keine unnötige Zeit im Universum verbringen. Rein, Aufgabe erledigen und raus, das war für ihn oberste Priorität bei seinem zweiten und damit wahrscheinlich letzten Besuch in dem beschränkt-dimensionalen Raum vor zwölf Jahren gewesen. Sein Auftrag lautete, für wissenschaftliche Zwecke etwaige humanoide Lebensformen zu dokumentieren, die sich noch im Universum herumtrieben. So ließ er von den Navigatoren einen Kugelspiralkurs ausarbeiten, der sogar in wenigen Lichtjahren Entfernung an Sol vorbeiführen sollte.
Nachdem die Berechnungen abgeschlossen waren, begaben sich die hohen Herrschaften in den Cryo-Schlaf, um wenigstens nicht ganz so schnell zu altern wie der wachhabende Teil der Mannschaft, der eigentlich nur aus drei Trads, ihres Zeichens Navigatoren und Sid bestand.
Der Begriff der Trads stammte von ZEN, der KI, die dieses Raumschiff erschaffen hatte und die damit eigentlich die Menschen bezeichnete, die wenigen Menschen, die überlebt hatten und die sich, im Unterschied zu Sen und Sid, entschieden hatten, in diesem zweiten Leben zu verbleiben bis zu ihrem Tod, trotz der vielfältigen Möglichkeiten des Upgrades, welches ihnen ZEN angeboten hatte. Trads waren für ZEN Traditionalisten, die frei von irdischen Bindungen ein zweites Leben gewollt und auch bekommen hatten. Relativ frei von Krankheiten mussten sie keinen Autoritäten gehorchen außer der des Patrons und konnten ansonsten tun und lassen, was sie wollten. Sen nannte die Trads Fischstäbchen, es war für sie unvorstellbar, dass Menschen die Strapazen eines so langen Cryo-Schlafes auf sich nehmen konnten ohne anschließend von den Vorzügen eines Upgrades zu profitieren, ohne mit geschärften (und vielen neuen!) Sinnen ein zweites Leben zu beginnen, um später all ihre Emotionen abzulegen, die Simulation hinter sich zu lassen und sich dem NICHTS anzuvertrauen.
Die üblichen Nanokolonien, die ihnen zahlreich auf ihrem Weg begegneten, versuchte die Mannschaft zwar zu scannen, jedoch entzogen sich diese wie üblich jedem Zugriff. Autarke Nanowelten traten nicht mit Trads in Kontakt – keiner wusste eigentlich, was innerhalb dieser spinnennetzartigen Ansammlungen von künstlichen Intelligenzen