NICHTS. Leon Skip. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Leon Skip
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738097382
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war der Tank wahrscheinlich eine der antiquiertesten Einrichtungen auf der Starburst. Das Konzept ist einfach: Man grille den Eingeschlossenen mit einem wilden Gemisch von Wellenlängen und setze ihn gleichzeitig den chemischen Reizen des auf Körpertemperatur gebrachten Schock-Gels aus und das Ergebnis ist ein kontrollierter anaphylaktischer Schock, der in Folge zwischen erstem und dritten Grad oszilliert. Abgeleitet war diese Therapie von der Arbeit der NASA-Psychologen, die die Astronauten auf die ersten Marsflüge vorzubereiten hatten und die einhellig der Meinung waren, ein Mensch dürfe sich nicht zu weit von der Erde entfernen, ohne die Gefahr einer schweren Psychose in Kauf nehmen zu müssen. Denn nicht nur die zeitliche Entfernung von der Heimat kann Störungen hervorrufen sondern auch die geographische, wie man damals schon wusste. Mit einem Wort: Der Mensch verliert seinen Bezug zum Menschsein, wenn er sich zu weit von zuhause entfernt. Wo die kritische Entfernung lag, wusste man nicht, man nahm aber an, dass die fünfundsiebzig Millionen Kilometer, die Mars Odyssee 1 und 2 zurückzulegen hatten, definitiv zu weit waren und wollte deshalb mit entsprechenden Therapien sicherstellen, dass die Astronauten ansprechbare Wesen blieben und der Mission keine Schande machten, indem sie eventuell der Menschheit entsagten und vielleicht eigene Wege gingen, die vom Drehbuch abwichen. Und so wie bei einer Impfung bestand die Therapie darin, den Kandidaten in kleinen Dosierungen den Bezug zur Menschheit zu stehlen und ihn solchermaßen auf die Reise vorzubereiten.

      Das Prickeln des in seinen Lungen verdampfenden Gels ließ Sid aus der Starre erwachen. Der Deckel des Containers war bereits geöffnet und Dr. Brahman hielt ihm die obligatorische Tüte vor den Mund. Er erbrach sich, ein kurzes Aufblitzen der erlebten Einsamkeit ließ Tränen in seine Augen schießen, die er jedoch abschüttelte wie einen schlechten Traum. Er wollte einfach nichts mehr mit der Gefühlsduselei der Trads zu tun haben, das war für ihn das Letzte. Wieder spulte sich die Frage in ihm ab, warum ausgerechnet er zum Handkuss gekommen war und so den biochemischen Wirrungen der [Existenz?] ausgesetzt werden musste. Die Wahrscheinlichkeit, dies alles in diesem seinem zweiten Leben ganz vergessen zu können lag bei null Prozent, eine optimistische Betrachtungsweise war hier ausgeschlossen. Wenigstens in dieser Frage musste er sich nicht quälen.

      Er stieg mit weichen Knien aus dem Container. Angst, Wut und Traurigkeit kulminierten zu einem unkontrollierbaren Zittern, bis sein wahres Wesen wieder die Oberhand übernahm und er zum Scherz und als Revanche Dr. Brahman fest in die Brustwarzen zwickte und ihr, als sie den Mund vor gespielter Empörung aufriss, einen wirklich fetten Kuss gab. Sie stieß ihn von sich, um ihn sogleich zu umklammern, küsste ihn auf die Wange, drückte ihn an sich und reichte ihm dann seine Plastklamotten.

      »Wie immer: Alles paletti«, schnurrte sie, sah ihm in die Augen und fügte hinzu: »Ich gebe das O.K. an Plistulh weiter. Sei vorsichtig.«

      Nachdem Sid sich den ekligen Gel-Kleister abgewaschen hatte und wieder am Board stand, dachte er daran, wie wichtig der Kleine Tod für Zeit-Nautiker sein musste, bevor sie ihr Schiff mitten in einem Zeitnebel dieser Größenordnung verließen. Wenn die das große Loslassen nicht vorher trainierten, mussten sie mit schweren Psychosen rechnen.

      Dr. Minpili Brahman war schon etwas länger an Bord der Starburst als Sid. Sie bekleidete eine besondere Position in diesem zusammengewürfelten Haufen verschiedenster Charaktere. Als studierte Psychiaterin fungierte sie an Bord als Ärztin und Therapeutin und bekam so allerlei zu hören und zu sehen. Oft wunderte sie sich darüber, wie gespalten die Persönlichkeiten der Passagiere an Bord waren – einerseits hatten sie alle den geradezu unheimlichen Mut aufgebracht, rechtzeitig ihr erstes Leben zu beenden, um in brauchbarem physischen Zustand aus dem Kälteschlaf zu erwachen und andererseits plagten sie alle die gleichen kleinen Nöte wie im vorigen Leben. Vor allem Klaustrophobie war weit verbreitet - schließlich konnte man nicht so einfach die Türe öffnen und aus dem Schiff aussteigen ohne mit entsprechenden Konsequenzen rechnen zu müssen und dann war da noch diese bei allen wiederkehrende Traumsequenz. Als Psychologin stufte sie dieses Phänomen als luzides Träumen ein, denn die Passagiere waren sich dessen bewusst, dass sie träumen und sie konnten auch alle diese Träume begrenzt steuern. Immer wieder erzählten ihre Patienten von Chören, mit deren Hilfe sie durch Kristallwelten navigierten. Alle empfanden diese Welten als ihr [wahres?] Wesen, ihr Innerstes und je weiter sie vordrangen, desto sauberer und authentischer wurde dieses Innere. Sie selbst machte diese Erfahrung fast jede Nacht und wenn man Minpili Brahman fragen würde, was zurzeit ihre Lieblingsbeschäftigung ist, würde sie ziemlich sicher antworten: »Schlafen«.

      Sie selbst hatte den Kälteschlaf vor 1512 Jahren angetreten und sich somit den Ausbruch des XP13-Virus und das damit einhergehende Leid erspart.

      Sie stammte aus Kolkata und war die Tochter eines Lehrers und einer Edelsteinhändlerin. Ihre Mutter handelte mit Saphiren und konnte ihrer Tochter das Medizinstudium finanzieren. Keiner sonst von Minpilis Jugendfreunden bekam die Chance auf mehr als drei oder vier Jahre Schule und dies motivierte sie, besonders fleißig zu sein. Immerhin waren ihre Großeltern arme bengalische Jutehändler gewesen, als die Stadt noch Kalkutta hieß. Sie verkauften ihre Säcke und Teppiche auf dem New Market zu einer Zeit, als von steigenden Meeresspiegeln noch keine Rede war. Sie hatten auch so genug Sorgen in der hoffnungslos übervölkerten Metropole. Im Jahr 2041 der alten Zeitrechnung, als Kolkata bereits als das Venedig Indiens bezeichnet wurde, schloss das Medical College wegen Überflutung seine Pforten und die ganze Familie Brahman zog nach Kanpur, weiter stromaufwärts am Ganges gelegen. Minpili schloss dort ihr Studium ab und praktizierte dann als Kinderärztin, obwohl sie als Fachrichtung Psychiatrie gewählt hatte. Zu einer Zeit, als alles flüchtete und Städte wie Kanpur mit Flüchtlingen aus den Küstenregionen überschwemmt wurden, konnte sich jedoch kein Mensch einen Psychiater oder Psychotherapeuten leisten – eher gefragt waren Doktoren, die die zahlreichen Seuchen eindämmen konnten. So half sie, wo sie konnte. 2045 kamen ihre Eltern bei einem Großbrand im Zentrum von Kanpur ums Leben und Minpili staunte nicht schlecht über ihre Erbschaft. Ihre Mutter hatte ihr einen Beutel hinterlassen. Einen kleinen Beutel aus Jute. Als der Notar ihr die Hinterlassenschaft in einem verschlossenen Kuvert überreichte, genügte ihr ein Blick um zu wissen, um was es sich handelte. So vermied sie es auch, den Beutel vor den Augen des Notars zu öffnen. Sie tat dies Zuhause und zum Vorschein kamen elf riesige Saphire, für die jeder Gemnologe einen, wenn nicht mehrere Finger geopfert hätte. Minpili glaubte wie so viele gebildete Inder nicht an Wiedergeburt, an eine lebenswerte Existenz im Alter glaubte sie aber noch weniger – immerhin war damals schon klar absehbar, dass die Hälfte aller Inder mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten zehn Jahren verhungern würde. Ihre Landsleute zahlten den hohen Preis dafür, als erste Großnation vollständig auf gentechnisch modifizierte Reissorten umgestiegen zu sein. Das bedeutete, dass die Bauern zu jedem Anbauzyklus neues, modifiziertes Gen-Saatgut teuer bei den Vertretern der Großkonzerne kaufen mussten, denn die Früchte der sterilen Gen-Sorten konnten als Saatgut nicht verwendet werden.

      Minpili glaubte nicht an Heiligengeschichten, sie glaubte nicht an ein menschwürdiges Dasein in der Zukunft, aber sie glaubte an die Wissenschaft. Also durchstöberte sie die Anzeigen und stieß auf CRYOSLEEP.COM, den einzigen Anbieter für Langzeit-Kälteschlaf, der es tolerierte, wenn die betreffende Person freiwillig und vorzeitig aus dem Leben schied. Die konservative Methode bestand darin, sich nach dem Tod in den Kälteschlaf zu begeben. Allerdings musste man bei dieser Variante darauf vertrauen, dass am Tag X das gesamte Bewusstsein, das Gedächtnis sowie die vollständige Persönlichkeitsstruktur mittels kortikaler Schnittstelle in den geklonten neuen Körper transferiert werden konnte. Von solchen Fertigkeiten war die Wissenschaft zu diesem Zeitpunkt jedoch weit entfernt, also wählten die Mutigeren den Freitod, um in der Zukunft im eigenen, noch funktionsfähigen Körper das zweite Leben antreten zu können. Wäre es anders gewesen und alle, die es sich leisten konnten, hätten die mutige Variante gewählt, so hätte Minpili nie einen Platz im Tank bekommen – die Wartelisten für die konservative Variante waren unendlich lang. So waren am Ende nur einhundertfünfundvierzig Menschen in der Zukunft wiedererwacht, vierundvierzig davon befanden sich an Bord der Starburst, einhundertundein Personen standen auf der Passagierliste der beiden anderen RZ-Schiffe.

      Minpili zahlte mit der Hälfte ihrer Saphire CRYOSLEEP.COM aus, die andere Hälfte spendete sie anonym einem Waisenhaus. Im Alter von 42 Jahren begab sie sich nach Stockholm, leitete selbst ihre Vitrifizierung ein, betätigte den Funksender und wurde innerhalb einer Stunde abgeholt.