»Mein Zebraschwanz aus echtem Nanoplüsch«, jammerte er. Aber er wusste auch, dass Sen recht hatte: Er war zu weit gegangen mit seinem Kostüm. Wie gesagt: Auf der Starburst war Humor nicht großgeschrieben. Kommandant Plistulh hatte ihn letztens schon verwarnt. Sid bat ihn daraufhin um ein LT, ein logic talk und dem Kommandanten war nichts anderes übrig geblieben, als darauf einzugehen. Schließlich war es innerhalb der Gruppe Pflicht, sich bei Bedarf jederzeit auf rein logische Frage-Antwortspiele einzulassen.
Sid war darin der Meister: Er fragte Plistulh: »Ist es wahrscheinlich, dass irgendwelche Avatare in irgendwelchen Zeitnebeln den Begriff Zebra kennen oder jemals Abbilder von Zebras gesehen haben könnten?« Plistulh quetschte zähneknirschend ein Nein aus seinen Mundwinkeln.
Zweite Frage: »Ist es aus diesem Grund völlig irrelevant, ob mein Anzug eine Zebramusterung aufweist oder irgend eine andere?«
»Ja..«, knirschte sein Vorgesetzter, »..aber eins sag ich Ihnen trotzdem: Der Schwanz muss ab, noch vor der nächsten E.V.A.«
Wie konnte er es Sen also verübeln, den Schwanz abgetrennt zu haben? Er strich über den weichen Plüsch. Als Sen ihn von hinten an der Hüfte berührte, drehte er sich um, fing ihren Blick auf und wusste, was jetzt kommen würde. Sie würde aus dem NICHTS zitieren, ihre Zuwendung würde ihn bis zum Kontrollverlust bezaubern. Die schönsten Momente des Vergessens waren in ihren Armen.
Sid war groß und schlank, sein kurzes Haupthaar schwarz, das Kinnbärtchen argonflammenblau. Sein rechtes Auge hatte die Tönung der Supernovae, ultragrün, das linke - künstliche - Auge war dem rechten farblich angepasst, besaß jedoch Nautikeigenschaften sowie jeden Sensorik-Schnickschnack, den ZEN auf Lager gehabt hatte. Nachtsicht, Meridianfeldwahrnehmung sowie Gravitationspolarisierung waren somit für Sid ein Kinderspiel, wobei es ihn manchmal wurmte, Meridianfelder sehen zu können – die Trads waren für ihn schon ohne diese Fähigkeit leicht zu durchschauen.
Sen schälte ihn bereits aus seinem blauen Plast-Overall. Sie war zehn Zentimeter größer als er, schlank und, gelinde gesagt, äußerst wandlungsfähig. Heute trug sie ihre hüftlangen, gewellten Haare alarmrot, ihr wohlproportionierter Kopf beherbergte sonnen-auragelbe Lippen mit blau schattierten Mundwinkeln, ihre Augen saßen über einer Nase im klassischen Zeitschleifen-Look.
Ihre Augen!
Diese hypnotisch zu nennen, wäre eine Beleidigung gewesen, sie weltenschaffend zu nennen eine schwache Beschreibung – ihre Augen machten einfach alles, was sie erfassten, besser. Erblickte sie Trads, so wurden diese für die Dauer ihres Blickes gut und weise, sah sie Essen an, so verwandelte sich dieses in Speisen, kurz: Sie verwandelte Personen und Dinge mit herkömmlichen ETWAS-Qualitäten in Persönlichkeiten und Wertgegenstände mit erlesenem NICHTS-Charakter.
Sie war viel stärker als Sid und sie hatte darüber hinaus den Vorteil, nach Belieben alle Arten von Botenstoffen ausscheiden zu können. So massierte sie jetzt mit schnellen Bewegungen die von ihren Fingerspitzen abgegebenen MAO-Hemmer in das Gewebe in der Nähe seiner Halsschlagader, reduzierte damit sein Immunsystem auf ein überlebenswichtiges Minimum und übertrug gleichzeitig mit ihrem Kuss verschiedene psychoaktive Stoffe auf seine Mundschleimhaut. Da diese durch die Wirkung der MAO-Hemmer von seinen Pseudo-Leukozyten nicht abgebaut werden konnten, entfalteten sie ungehemmt ihre volle Wirkung.
Sid wurde sofort ohnmächtig. Mühelos hob sie ihn an, trug ihn ins Antigrav und begann, seinen völlig entspannten Körper zu massieren. Es war an der Zeit, das NICHTS zu besingen, und so begann sie leise zu zitieren:
TRIPILU – er – GLINGAHU h
JILOKIL – ey – NADUJU g
NAVOULD – lo – HUMJIN g
LUAPIH – chö – KILMIN j
Sid erwachte eine NICHTIGKEIT später und fand sich schwebend in Sens Umarmung wieder. Nachdem er das letzte ETWAS abgestreift hatte, erwiderte er ihren Kuss und sie nahm ihm alles. Wahrhaftig Liebende begegnen sich in der Nicht-Existenz - die Vorstellung, sich in einem mit Ego durchsetzten ETWAS zu vereinigen, war für Sid mittlerweile unerträglich - die Lüge schlechthin. Nachdem vor etwa 1000 Jahren die ersten autarken, sich selbst replizierenden KIs die Hirntätigkeit der Trads in Echtzeit entschlüsselt hatten, wusste ja jeder Bescheid. Es war bitter für die Reste der Menschheit, als sie endgültig akzeptieren musste, dass Seele, Gott und Schicksal Autosuggestionen waren.
Sen streichelte sanft Sids Lymphknoten. Sie musste vorsichtig sein, die psychoaktiven Substanzen mussten gleichmäßig in seinem Körper verteilt werden. Jede Konzentration davon in einem seiner Organe konnte ihn umbringen. Seine Tränen glänzten orangefarben im Licht des Antigravs und bildeten eine Aura um die beiden, schlossen sie ab vom Rest-ETWAS und schon fühlte Sen seinen Höhepunkt, fühlte, dass sie ihm NICHTS gab, ihn damit heilte, in stärkte. Er schrie auf, zuckte, drehte sich mit ihr in einem subtraktiven Wirbel und wurde sofort wieder ohnmächtig. Sie trug ihn aus dem Antigrav, und legte ihn auf den Schlafplatz ihres Habitats. Was für ein Glück - mein Geliebter, dachte sie. Bevor sie ihm den letzten Kuss zum Deaktivieren der Katalyt-Substanzen gab, betrachtete sie ihren ohnmächtigen Freund und versuchte sich vorzustellen, wie wohl das Erleben des NICHTS für ihn sein mochte - das war eines der wenigen Dinge, die wirklich schwer fassbar für sie waren.
Nachdem drei Stunden später die Dämmerungsautomatik das Licht im Habitat dimmte, erwachte Sid. Er setzte sich auf und erkannte im Halbdunkel Sen, die gerade ihre reduktionistische Meditation beendet hatte und sich die Haare zu einem Turban band. Völlig entspannt und durchdrungen von tiefstem Respekt schritt er auf sie zu, kniete nieder und nahm ihre Hände in die seinen.
Er küsste ihre Handflächen und war dankbar - dankbar, dass er eines Tages, wenn es soweit war, mit ihr und in ihr weiterleben würde dürfen.
2 Erstes Leben, Erde, 2095 Trads-Zeitrechnung
Ich erwache ausnahmsweise ohne Darmschmerzen. Timea ist nicht da – sie fehlt mir jedes Mal, wenn ich alleine aufwache. Der Baulärm von nebenan weckt mich seit mehreren Wochen um sechs Uhr früh. Für mich Anlass, noch früher als gewohnt meine Übungen zu machen.
Das eiskalte Wasser im Gesicht macht mich munter, anschließend grüble ich wie immer über der Frühstücks-Frage. Ich entscheide mich für Bio-Hirse mit echtem Haselnussmus, fülle also hundert Kubik-zentimeter von dem Getreide und das Doppelte an Wasser in einen Topf und begebe mich mit schlechtem Gewissen in meinen kleinen Garten.
Schon wieder ein Bio-Frühstück! Ich muss besser mit meinem Geld haushalten. Biogetreide wird heute quasi mit Gold aufgewogen, doch an den Tagen ohne Timea brauche ich diesen Luxus einfach. Doch zuerst die Bewegung. Bevor ich meine Pilates-Übungen mache, müssen alle Insekten in meinem Haus gerettet sein: eine Macke, die mich nicht mehr loslässt. Tibetische Mönche, die, mit Besen bewaffnet, den Weg vor ihren Füßen kehren, um keine Kleinlebewesen zu zertreten stehen mir näher als in unserer Zeit gut tut. Nur beim Tanzen und beim Pilates schalte ich ab: Das psychosomatische Zwicken im Darm verschwindet dann immer, der innere Dialog verstummt, es ist eine Stunde so, wie es eigentlich immer hätte sein sollen.
Minuten später schwebe ich bereits auf Wolken: Schon nach den ersten Übungen fließt meine Energie reibungslos, mein Hinterfragen bröckelt ab wie Putz von einem der wenigen Gründerzeithäuser, die, zwischen Hochhäusern eingeklemmt, heute noch in Wien von den japanischen Touristen bestaunt werden.
Nicht zu verhindern ist, dass früher oder später dann doch wieder mein wahres Wesen zum Vorschein kommt, und damit kommen auch die Traurigkeit und der Schmerz zurück, weil wir die Erde in ein Dreckloch verwandelt haben. Doch noch ist es nicht soweit, noch strecke und dehne ich, noch fokussiere ich auf das Wechselspiel zwischen Anspannung und Entspannung meiner Muskelgruppen, die Atmung und die Liebe, die mir sonst verwehrt ist.
Die