Das Bovniker Uni-Klinikum, ehemals „Kaiserliches Universitätsklinikum“, blickte auf eine glorreiche, wenn auch mittlerweile angestaubte Geschichte zurück. Die Keimzelle seines Erfolges, die neurologische Abteilung, zehrte noch heute, beinahe zehn Jahre nach dem Zerbrechen des Staates Thunak und der Unabhängigkeit Bovniks, bald siebzig Jahre nach der Auflösung des Kaiserreiches und einhundertzehn Jahre nach der Gründung des Instituts, vom Ruhm seines zutiefst humanistischen Gründers, und der leitende Professor schien überzeugt, dessen Errungenschaften nichts auch nur annähernd Segensreiches mehr hinzufügen zu müssen. Stattdessen profilierten sich die Ärzte der Neurologie und Psychiatrie seit dem politischen Umbruch und unter dem Eindruck seiner Folgen für die innere und äußere Sicherheit des jungen Staates lieber in der engen Zusammenarbeit mit den Staatssicherheitsbehörden, mit anderen Worten: sie perfektionierten die Methoden der „Befragung Aussageunwilliger“, testeten und entwickelten „unterstützende“ Medikationen und Verfahren und werteten Verlauf und Ergebnisse ihrer Anwendung nach streng wissenschaftlichen Maßstäben aus, um sie weiter zu optimieren. Der noch jugendliche, kleine, um nicht zu sagen zwergenhafte Staat Bovnik verfügte aufgrund des außergewöhnlichen Engagements der besten Neurologen des Landes über die berüchtigtsten und erfolgreichsten Folterer des ganzen Kontinents, die sich allerdings so gut wie ausschließlich mit thunakischen Spionen und Soldaten befassten. Abgesehen davon konnte jeder reguläre Patient der Bovniker Neurologie sicher sein, eine ausgesprochen kompetente Diagnose und Behandlung zu erhalten, und auch jeder Unfallpatient, bei dem eine Schädigung des Gehirns oder Nervensystems nicht von vorneherein ausgeschlossen werden konnte, verließ das Klinikum nicht, ohne dass zumindest die grundlegenden neurologischen Parameter gewissenhaft überprüft worden waren. Die außerordentliche Qualität der Bovniker Neurologen und Neurochirurgen war zwar auch außerhalb Bovniks bekannt, doch niemand wollte in ein Kriegsgebiet kommen, Kopf und Kragen riskieren, um von einem zugegebenermaßen hervorragenden Neurochirurgen operiert zu werden. Doch seit die Signaturtechnologie angewendet wurde, änderte sich die Situation zusehends, und so fanden nun auch zahlungskräftige Patienten aus dem Ausland Aufnahme in den altehrwürdigen Gemäuern des Klinikums. Ihr Geld sorgte im Gegenzug dafür, dass sich die Klinik noch bessere Ausstattung leisten konnte. Bald würde sie weltweit an der Spitze stehen, prognostizierten nicht wenige Kenner der Branche. Einer der ersten dieser ausländischen Patienten war der Vorstandschef eben jenes Rüstungskonzerns, welcher dafür gesorgt hatte, dass Zivilpersonen in Bovnik nicht mehr um ihr Leben fürchten mussten als an Orten der Erde, in denen kein Krieg herrschte. Ein Schlaganfall hatte ihn mitten in einer Vorstandssitzung ereilt, in der erbittert um die künftige Strategie zur Verbreitung ihrer, wie sich herausgestellt hatte, tatsächlich bahnbrechenden Signaturtechnologie gestritten worden war. Allen im Vorstand war nur zu klar geworden, welch unermessliches Marktpotenzial sie würden ausschöpfen können, welche geradezu absurd hohen Wachstums- und Gewinnmargen sie würden realisieren können, wenn auch nur ein Bruchteil der Möglichkeiten umgesetzt würde, die sich zu jenem Zeitpunkt abzuzeichnen begannen. Denn ihre Technik schien wirklich zu funktionieren. Mit ausreichender Zuverlässigkeit hatte sie erst die Erwartungen erfüllt, dann aber bald weit übertroffen. Lizenzvergaben, eigene Anwendungen und Waffenproduktion, Beteiligungen an produzierenden und entwickelnden Unternehmen und: Kunden in der ganzen Welt, auf jedem Kontinent, auf staatlicher und privater Seite erwarteten den Konzern. Geld ohne Begrenzung. Jeder würde die Technik haben wollen, wenn ihre Wirksamkeit unzweifelhaft bewiesen und erprobt und für die Handhabung der ihr innewohnenden ethischen Problematik „griffige Formulierungen“ gefunden sein würden. Und wenn auch nicht jeder staatliche oder privatwirtschaftliche Interessent offen danach fragen würde, so doch wenigstens unter der Hand. Zumindest „erproben“ würde sie nahezu jeder Staat dieser Erde. Und jeder sollte sie auch bekommen. Sehr bald, nachdem der Vorstandschef während der Sitzung in sich zusammengesackt war, hatten die PR-Strategen die große Chance erkannt, die in dieser Situation steckte. Sie würden sie benutzen, um der Welt zu demonstrieren, wie groß das Vertrauen der Firma und der Familie des Vorstandschefs in die Signaturtechnologie war – sie hielten der Ehefrau des Vorsitzenden eine gefälschte Anweisung des Todkranken unter die Nase, ihn im eingetretenen Fall nach Bovnik zu bringen und schickten ihn zur Behandlung und Rehabilitation mitten in den Krieg, den Krieg, der mit ihrer neuen Technologie geführt wurde. Schon jetzt, der bedeutende ausländische Patient hatte gerade einmal seine erste Operation hinter sich und erholte sich nur wenige Zimmer von Salvatore entfernt, begann der Schachzug des Konzerns, die gewünschte Wirkung zu entfalten. Die Vereinten Nationen, die über die Technik tief zerstritten waren und ihren Einsatz in diesem Konflikt nur überwachten, weil sie vorher vollkommen hilf- und erfolglos darin agiert hatten, waren nun, nach knapp zwei Jahren der neuartigen Kriegführung, ausgesprochen kleinlaut geworden. Die Verantwortlichen des Konzerns durften demnach zuversichtlich sein, dem Vorstandschef, sobald er wieder in der Lage sein würde, seine Situation zu erkennen und sich zu der dreisten Urkundenfälschung möglicherweise kritisch zu äußern, einige höchst beeindruckende Zahlen vorlegen und ihn damit – so gut kannte man ihn – ohne Zweifel überzeugen zu können.
Salvatore konnte die Gegenstände in seinem Krankenzimmer nun schon besser erkennen. Sogar seine restlichen Finger ließen sich wieder etwas bewegen und er versuchte, seine rechte Schulter anzuheben. Es gelang. Er bemerkte den Signalknopf, der über seinem Bett von dem galgenähnlichen Gestell baumelte, gleich neben dem grauen Haltegriff, der aussah wie eine fette Triangel.