Warum der stille Salvatore eine Rede hielt. Michael Wäser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Wäser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738037616
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er täglich einen Ausflug wie den, der von dem Wal so unvermittelt beendet wurde, manchmal auch zwei an einem Tag – wenn Salvatore Lust hatte und das Wetter es erlaubte. Dies war das Äußerste, was jemand am Tag des Unfalls oder irgendwann später über Salvatore Krig überhaupt hätte in Erfahrung bringen können. Ob sich dahinter ein Geheimnis, eine Tragödie oder einfach nur Ödnis und Langeweile verbargen, spielte eigentlich keine Rolle, denn tragische Schicksale und Geheimnisse hatte jeder Bovniker in seinem Umfeld und seinem Leben mehr als genug.

      Fortinbras und die 60-Watt-Birne

      Wie sehr Vera noch immer zitterte, bemerkte sie erst, als sie die Wohnungstür öffnen wollte. Sie hatte einen weiten Umweg gemacht, wie Mikos es ihr eingeschärft hatte, immer darauf gefasst, dass jemand hinter ihr her war – ganz egal, ob von der Geheimpolizei oder von sonst einem Arm des Bovniker Kraken, dem man eigentlich nie ganz aus dem Weg gehen konnte, denn er saß in jedem Haus, in beinahe jeder Wohnung. Erst als sie ganz sicher gewesen war, dass niemand sie beobachtete oder ihr gar folgte, hatte sie den direkten Weg nach Hause eingeschlagen und war gänzlich unbehelligt im linken Hausflur des Plattenwohnblocks verschwunden, in dem sie lebte, seit sie denken konnte. Genauer gesagt lebte sie hier, seit sie auf der Welt war, und nach ihrem Gefühl herrschte schon fast ebenso lange Krieg in Bovnik. Das war zwar übertrieben, aber die Erinnerungen an ihre Kindheit, in der sie nicht täglich das Geräusch von Granaten und Scharfschützengewehren hatte hören müssen oder sich, wie seit der Neuregelung üblich, immer wieder durch wild umherschießende Soldatenrotten schlängeln musste, wenn sie sich nur eine kleine Strecke in der Stadt bewegte, waren verblasst, überschrieben von der späteren, unangenehmen Realität ihres Lebens. Der Wohnblock erzählte auch keine netten Kindheitsgeschichten, wenn sie ihn ansah. Er erzählte mit seinen aus der „alten“ Kriegszeit stammenden Einschusslöchern, vor Jahren geborstenen und nie wirklich reparierten Wänden und Fenstern und seinen rostig aufgespaltenen Fugen zwischen den deprimierend gleich gebauten Platten überhaupt keine Geschichten. Die absurd hervorstehenden Betoneinfassungen, die den lächerlich kleinen Fenstern das Erscheinungsbild von Schießscharten verliehen, ließen keinen Gedanken an unbeschwerte Nachmittage aufkommen, die man vielleicht einmal am Fenster sitzend und mit Nachbarn plaudernd oder dem Gesang der Amseln lauschend verbracht haben könnte. In diesen Fenstern hatte sich niemals und konnte sich niemals so etwas Entspanntes, so etwas unkompliziert Verbindendes abgespielt haben. Als sie nun diese Fassade, die ihr immer vergegenwärtigte, wo sie lebte, durchschritten, die Treppe in den sechsten Stock erklommen und in den Taschen ihrer Jeans nach ihrem Schlüsselbund gesucht hatte, musste Vera vor der Tür stehen bleiben, ohne sie öffnen zu können. Denn in diesem Moment schoss ihr die Befürchtung durch den ganzen Körper, dass sie diese Tür vielleicht nicht mehr sehr oft öffnen würde, dass sie dieses Haus in absehbarer Zeit vielleicht würde verlassen müssen, um ihre Familie nicht zu gefährden. Mikosʼ merkwürdiger Scherz war ihr im Gedächtnis geblieben – eigentlich war er ihr schon damals durch Mark und Bein gefahren – als er ihr, um herauszufinden, ob sie wirklich dazu bereit war, AR beizutreten, vorgegaukelt hatte:

      „Spätestens, wenn die von der Regierung irgendeinen Hinweis auf dich haben, ganz egal wie konkret, musst du abtauchen!“

      Bisher sei es allen Aktivisten gelungen, vollkommen unentdeckt zu bleiben und ihr bürgerliches Leben weiterzuführen. Doch irgendein dummes Missgeschick oder ein Zufall könnten das ganz schnell ändern.

      „Und wenn sie rauskriegen, wer ich bin?“, hatte sie gefragt.

      „Dann sollte deine Familie am besten schon gar nicht mehr wissen, dass du mal zu ihnen gehört hast.“ Damit spielte er darauf an, wie Bovniker Familien gemeinhin mit „unpatriotischen“ Familienmitgliedern umsprangen (das konnten Deserteure sein oder ganz einfach jeder, der dem Druck des Krieges nicht gewachsen war): Sie verstießen oder denunzierten sie oder wurden von der Geheimpolizei oder ihren Nachbarn dazu gebracht. Mikos wusste ja nicht, dass Veras Familie keine von dieser Sorte war, und Vera hatte den Impuls, ihm das zu verraten, glücklicherweise unterdrückt. Aber dann hatte Mikos gelacht und gesagt, es sei doch alles halb so wild, schließlich wende AR grundsätzlich keine Gewalt an und Vera hätte deshalb nicht mehr zu befürchten als ein paar Tage Knast oder eine Geldstrafe. „Ich will nur sicherstellen, dass wir vorsichtig bleiben. Wir müssen es ja nicht unbedingt drauf anlegen, geschnappt zu werden, oder? Besser wir bleiben anonym.“

      Es nutzte nichts. Ihre Hand zitterte so stark, dass sie mit dem Schlüssel nicht das Schlüsselloch traf. Sie konnte das Schloss nicht einmal richtig sehen, denn ihre Augen flimmerten seit dem dritten Stock immer stärker. Vera lehnte sich gegen die Tür. Bloß nicht ohnmächtig werden. Ihre Familie würde den Lärm hören, wenn sie auf das Linoleum aufschlug, und dann würden sie ihr wieder Fragen stellen, ihr Opa, ihr Vater, und ganz bestimmt ihre Mutter. Also atmete sie tief und gleichmäßig, wie Mikos es ihr eingeschärft hatte, schloss die Augen für einen Moment, machte sich bewusst, dass sie es geschafft hatte, dass sie nicht in Gefahr schwebte. Vermutlich jedenfalls. In ihrem Schwindelgefühl sah sie wieder das „Schattenreich“ vor sich, ein dunkles, undurchdringliches, höhlenartiges Gebilde, angefüllt mit verborgenen Obsessionen, enttäuschten Hoffnungen, aufgehäuften Schmerzen und unerfüllten Wünschen, das sie nie wirklich zu fassen bekam oder lokalisieren konnte, über das immer nur geschwiegen wurde, von dem sie aber seit ihrer Kindheit glaubte, es befände sich direkt unter ihnen, ja ganz Bovnik sei geradezu darauf gebaut wie auf einer brüchigen Eierschale. Sie konnte durch die Tür ihren Opa hören. Gut, so konnte sie sich orientieren und ihre Gedanken auf etwas anderes lenken. Vladimir schien sich wieder mit einem Buch zu beschäftigen und die ganze Familie daran teilhaben zu lassen, wie er es oft tat.

      „Ich glaube, du hast nicht zugehört, mein Sohn“, hörte sie seine immer etwas theatralisch gestützte Stimme, die sich gegen unverständliches Gemurmel durchzusetzen gedachte. „Was er dem toten Hamlet anvertraut, das ist kein Spott, es ist die Wahrheit. ‚Denn wie du richtig meintest Dänemark ist ein Gefängnis.‘ Den letzten Teil des Satzes stattete Vladimir mit einem Tremolo aus, das einem Shakespeare-Darsteller des neunzehnten Jahrhunderts Ehre gemacht hätte, woraus Vera ableitete, dass es sich hierbei um ein Zitat des betreffenden Dichters handeln musste. Gefängnis. Ausgerechnet, dachte Vera und traf dieses Mal mit ihrem Schlüssel das Schloss.

      „Das ist nicht Fortinbrasʼ Meinung, oh, guten Abend Kleines, hast du einen schönen Tag gehabt, sondern die einfache Wahrheit, auch dieses Scheusal von Fortinbras ist gefangen, in dem Land, das er selbst ... in diesem, seinem Leben, verstehst du?“

      Wie immer machte Großvater Vladimir keine Pause in seinem Gedankengang, als Vera eintrat und von den Anwesenden nach und nach bemerkt und mit freundlichem Kopfnicken oder geschäftigem Lächeln begrüßt wurde. Einzig Veras Bruder Jan am Küchentisch zeigte überhaupt keine Regung, was sie von ihm allerdings auch nicht erwartete, denn er nahm eigentlich an nichts irgendeinen Anteil, außer an dem knapp ziegelsteingroßen, tragbaren Fernsehgerät in seiner Hand. In das starrte er eigentlich immer hinein, wenn er nicht in seiner Imbissbude die Würste auf dem Grillrost anstarrte, um nicht in die verkrampften Visagen seiner Kundschaft schauen zu müssen. Den Unwillen seiner Kunden auf sich zu ziehen, indem er in ihrer Anwesenheit Fernsehen schaute, riskierte er lieber nicht, denn seine Bude stand durch einen glücklichen Zufall seit ein paar Wochen mitten im Kampfgebiet und er machte blendende Umsätze. Außerdem hatte er die Angewohnheit, sich kleine Ohrhörer in seine Gehörgänge zu stecken, um einen halbwegs vertretbaren Ton zum Bild zu bekommen, und in seiner Familie hatte er diese im Grunde unverschämte Angewohnheit mit Beharrlichkeit durchsetzen können – gegenüber hartgesottenen und übel gelaunten Soldaten beider Lager mochte er sich lieber nicht erproben. Dass Vera ihm die Strickmütze, die er nicht einmal im Bett ablegte, im Vorbeigehen über die Augen zog, kommentierte er bloß mit demselben verlegenen Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn Vera ihn auf diese Weise neckte. Sein großer Mund mit den breiten Zähnen wirkte in diesem Moment noch grobschlächtiger als sonst. Dann schob Jan die Mütze wieder an ihren alten Platz und vertiefte sich in das Geschehen auf dem Bildschirm. Vera gab die alte Gewohnheit, ihren kleinen Bruder beim Fernsehen zu stören, ein wenig innere Stabilität zurück, wenn man in ihrem Fall überhaupt von so etwas reden konnte.

      „Du zitterst wieder, Schatz. Du wirst krank“, mahnte sie ihr Vater Ernèst, als sie ihm Küsschen