Warum der stille Salvatore eine Rede hielt. Michael Wäser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Wäser
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738037616
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Ziel nach seinem Erwachen schien ihm der Knopf geeignet. Was danach käme, würde er sehen. Vielleicht würde ihm die Schwester ja auch sagen können, warum er überhaupt hier war. Er fasste den Klingelknopf fest in die Augen und hob seinen Arm.

      Als die Nachtschwester kurz darauf Salvatores Zimmer betrat, verwunderten ihn zwei Tatsachen: 1. Die Schwester sah ihn, nachdem sie an seinem Bett einen Moment irritiert gewirkt hatte, mit einem schwachen, aber doch erkennbaren, freundlichen Lächeln an. 2. Er konnte sie nicht fragen, warum er im Krankenhaus lag. Die Erklärung für die zweite Tatsache fand er rasch selbst – mit dem Tubus im Hals konnte er einfach nicht reden. Die für Tatsache Nummer eins bekam er in dieser Nacht nicht. Auch nicht am folgenden Tag oder in der folgenden Woche. Diese Erklärung war um ein Vielfaches komplizierter, beinahe unmöglich zu akzeptieren und von derart großer Tragweite für ihn, dass er mehrere Wochen brauchen würde, um sie zu erkennen und anzunehmen – und daraus Konsequenzen zu ziehen. Bis dahin würde diese Tatsache sein Leben aber bereits völlig auf den Kopf gestellt haben.

      Ein Versuch

      Acht Jahre erbitterter und ergebnisloser Bruderkrieg zwischen Thunak und Bovnik waren der erstmaligen Anwendung der Signaturtechnologie in der praktischen Kriegführung vorausgegangen. Ergebnislos war dieser Krieg vor allem hinsichtlich der ursprünglichen Absichten der Parteien und der Lösung der Konflikte gewesen. Weder war es Thunak gelungen, Bovnik wieder in die staatliche Einheit zu zwingen, noch hatten es die Bovniker geschafft, ihre Selbstständigkeit vor den Attacken der thunakischen Seite zu schützen. Stattdessen hatte es Tausende von Opfern im militärischen, und noch mehr Tote und Verletzte im zivilen Bereich gegeben. Auf allen Ebenen des Lebens waren nach den acht Jahren Krieg schlimmste Verheerungen auf beiden Seiten nicht nur äußerlich sichtbar geworden, sondern hatten sich tief in das Bewusstsein, in die Seele und die Identität der Menschen eingegraben. Die Älteren, die zum Teil noch den Großen Krieg miterlebt hatten, resignierten ganz und gar oder lebten in der Reaktivierung des Soldatentums wieder richtig auf. Die Jüngeren entwickelten eine rohe, raubtierhafte Überlebensmentalität und die Kinder sammelten Tag für Tag die Grausamkeit ihres Lebens in ihrem Blut, bis es davon so gesättigt war, dass sie Gewalt und Zerstörung gegenüber so empfindsam waren wie Totholz. Diese Ausgangslage im Blick, lässt sich vermutlich besser erklären, was nach der Einführung der Signaturtechnologie in Thunak und Bovnik geschah. Die absolute Aussichtslosigkeit in diesem Krieg war es, die den Gedanken an das „Experiment“ mit der neuen Technologie überhaupt erst aufkommen ließ, denn es gab weltweit immense moralische Bedenken gegen diese Technik. Erst als immer mehr Politiker, Friedensforscher und andere Wissenschaftler feststellten, dass es gar nicht schlimmer werden könne, als es zu diesem Zeitpunkt bereits war, wurden auch häufiger Stimmen laut, die meinten, wenn sich die militärischen Gegner schon nicht besiegen, einigen oder gar versöhnen könnten, solle man die neue Technologie einsetzen, um wenigstens die Zivilbevölkerung umfangreicher vor den Folgen des Krieges zu schützen als bislang. Dies sei mit der Signaturtechnologie immerhin teilweise möglich. Das von einer internationalen Arbeitsgruppe bald darauf entworfene Konzept sah vor, die Kriegsparteien unter Aufsicht der UN mit der neuen Technik auszustatten und sie zu verpflichten, von da an nur noch signierte Waffen und signiertes Personal zu verwenden, sodass sichergestellt werden konnte, dass keine „Nicht-Kombattanten“ mehr zu Schaden kommen würden. Die Regeln sahen außerdem vor, dass als Kombattanten signierte Kräfte sich nicht mehr in zivilen, also gegenüber Signaturwaffen resistenten, Gebäuden verstecken durften, um das Zivilleben „nicht mehr als nötig“ zu stören. Die Verwendung von unsignierten Waffen durch das Militär stand laut der neuen Regeln unter Strafe, nur den Kräften der UN und der jeweiligen Polizei sollten unsignierte Waffen gestattet sein. Durchgesetzt werden sollte das Abkommen mit massiven, ja geradezu atemberaubenden, begleitenden Fördermitteln der UN für die beiden Staaten. Wer sich nicht an die Regeln hielt, würde demnach empfindliche Einbußen an Geld hinnehmen müssen – das sollte als Druckmittel mächtig genug sein, hoffte man. (Angesichts der ungeheuren Summen, um die es dabei ging, erwies sich die Hoffnung später als durchaus berechtigt, wenn man von einigen vereinzelten Verstößen absah.) Der Text des letztendlich unterzeichneten Abkommens unterschied sich in einem ebenfalls stark umstrittenen Punkt von den Entwürfen. Die hatten vorgesehen, auch die Soldaten selbst unsigniert zu lassen. Attacken mit Signaturwaffen hätten demnach reine Sachschäden hervorgerufen, Waffen, militärische Gebäude und Gerät beschädigt oder zerstört und keine Menschen in Mitleidenschaft gezogen, auch keine in Uniform. Die Argumentation beider Kriegsparteien in den Verhandlungen, wie man denn mit unwirksamen Waffen einen Krieg entscheiden solle, konnten viele zwar nachvollziehen, sie hatten aber dennoch das Gefühl, dass damit nicht die ganze Wahrheit gesagt worden sei. Auch das stellte sich später als zutreffend heraus. Das Abkommen bezog also nur Zivilisten als Nicht-Kombattanten in den Schutz vor Kriegshandlungen ein, nicht Soldaten. Die sollten laut Vertrag verpflichtend als Kombattanten signiert werden, waren also verwundbare Ziele, solange sie „im Dienst“ waren – auch dies eine Formulierung, die auf Drängen der zwei Kriegsparteien in das Abkommen aufgenommen und deren Umsetzung von den Kontrolleuren der UN überwacht werden musste. Die Irritation, um nicht zu sagen Skepsis, welche diese unerwarteten Änderungswünsche bei den Unterhändlern und ihren Regierungen hervorriefen, rührte hauptsächlich daher, dass man sich keinen Reim darauf machen konnte, warum die Kriegsparteien, und zwar einmütig, gerade auf diesen Änderungen beharrten, und dies rührte hauptsächlich daher, dass die Unterhändler ganz einfach weder Fantasie hatten noch auch nur annähernd die ungeheure Dimension an Verschlagenheit, welche ihnen auf der anderen Seite des Verhandlungstisches gegenübersaß. Welches die unmittelbaren und offensichtlichen Erleichterungen durch die neuen Regelungen sein würden, darüber bestand allgemeines Einvernehmen. Dass aber die beiden Kriegsparteien darüber hinaus schon sehr früh in den Verhandlungen viel langfristigere Chancen und Perspektiven in der neuen Konstellation erkannten und sich unbemerkt darüber absprechen konnten, wie sie diese Perspektiven auch erreichen würden, hätte als das monumentalste Desaster der neueren Diplomatie gewertet werden können – wäre die Entwicklung nicht in jene Richtung gegangen, die nun, rund zwei Jahre nach Beginn des Versuchs, den Kritikern nahezu alle Argumente raubte. Um es ganz einfach auszudrücken: Alle, vor allem die Bovniker und die Thunakis selbst, waren mit diesem Krieg zufrieden. Die Auswirkungen der beinahe täglichen Gefechte als „halb so wild“ zu bezeichnen, wäre zwar übertrieben, aber in der Tendenz traf dieses Urteil ohne Zweifel zu. Die Zivilbevölkerungen waren von dem langen, vorausgehenden Krieg derart verhärtet und erbittert, dass sie einen friedlichen, freundlichen Umgang nicht einmal mehr untereinander pflegen konnten oder wollten – da war der Krieg gegen einen äußeren Feind kaum zu vermeiden, wenn nicht sogar unverzichtbar. Man hatte sich als erbarmungslose Schicksalsgemeinschaft organisiert, nicht als pluralistisches Gemeinwesen. Verluste innerhalb der Familien waren schlicht und einfach zur Gewohnheit geworden. Kriegsinvalide gehörten zum alltäglichen Stadtbild und waren wohl die einzigen Normalbürger, die von den Bovnikern und Thunakis wirklich respektiert wurden. Materielle Verluste durch den Krieg aber blieben nun so gut wie ausgeschlossen, man konnte beinahe ein Leben führen wie vor dem Krieg. Doch nun, und hier erwies sich die Weitsicht der Kriegsgegner in den Verhandlungen zur SignaturKriegführung, brachte man mitten in diesem Alltagsleben Opfer wie im Krieg. Fast alle Familien hatten Helden in ihren Reihen, und eine Familie, die keinen vorweisen konnte, litt nicht nur unter Mangel an Ehre, sondern auch unter Mangel an staatlichen Zuwendungen und Privilegien. Der Slogan „We know!“, den z.B. die übergroße Mehrheit der Bovniker gern skandierte, einte das Volk im Stolz, in der Härte und im Beharren darauf, für das Bestehen der Gemeinschaft tagtäglich Opfer zu bringen. Die Regierungen der beiden verfeindeten Staaten hatten mit dem Eintritt in die SignaturKriegführung im Großen und Ganzen jegliche widerstreitenden Interessen im Staat eliminiert. Der Kriegszustand schweißte ihr Volk zusammen, sicherte ihre eigene Macht und schwemmte solche Mengen von UN-Geld in die kleinen Staaten, dass für alle Nützlinge des Systems bestens gesorgt und der „kontrollierte Krieg“ im Bewusstsein des Volkes gehalten werden konnte. Das Ergebnis, oder besser: der Zwischenstand nach zwei Jahren Signaturkriegs-Versuch, waren zwei soziopathische, super-patriotische de-facto-Diktaturen, deren überwältigende Bevölkerungsmehrheit sich stur, grimmig, gnadenlos, aber stolz und geeint gegen alle behauptete, die Zweifel an diesem System zu äußern wagten. (Von dieser Sorte gab es in Bovnik jedoch nur sehr wenige.) Die Gefallenen, die „Söhne der Volkseinheit“,