Die Schuldfrage. Astrid Rodrigues. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Rodrigues
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742797926
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Himmel herab und die Welt schien auf seltsame Weise in Ordnung zu sein. Mit Gießkannen befeuchteten wir die Leinentücher immer wieder, sobald sie zu trocknen begannen. In der Zwischenzeit lagen wir im grünen Gras, pflückten Gänseblümchen und bastelten Haarbänder daraus. Der Lehrjunge war schon wieder zurückgegangen, er hatte nur beim Tragen geholfen und musste nun noch das Brot ausliefern. Über den Zwischenfall vom Morgen auf dem Marktplatz dachte niemand mehr nach. Wir tranken Wasser aus dem Bach und deuteten die zarten Wolken, die am blauen Himmel dahinzogen. Wir fanden Herzen und Schafe, einen Elefanten und Onkel Heinis Motorrad. Gegen Abend sammelten wir die Wäsche ein und brachten sie nach Hause, wo sie am nächsten Tag noch einmal gekocht werden musste. Ein Glück, wer da ein Hausmädchen hatte. Da war meine Oma schon privilegiert. Aber sie arbeitete ja auch den ganzen Tag.

      Zum Abendessen gab es Schmalzbrote und Kakao. Ich war müde und schlief schon fast am Tisch ein. Hermann wollte unbedingt mit Heini Motorrad fahren und nervte ihn die ganze Zeit. Doch Heini hatte andere Dinge im Kopf. Doris musste uns zu Bett bringen. Hermann war das peinlich, fühlte sich dafür schon zu groß. An der Waschschüssel im Schlafzimmer hatten wir uns gewaschen und waren nun bereit schlafen zu gehen. Wir krochen in das hohe Bett unter die schwere, riesige Federdecke und konnten unsere Augen fast nicht mehr aufhalten.

      Hermann war es peinlich, dass er mit mir in einem Bett schlafen musste. Onkel Heini kam kurz herein, um gute Nacht zu sagen. Er hatte einen Anzug angezogen und wollte offensichtlich ausgehen. Er war eine imposante Erscheinung. Groß, schlank, sportlich und sehr gut aussehend. Das Haar mit ein wenig Pomade nach hinten gekämmt. Mit seinen dunkelblonden Haaren, den blauen Augen und seinem durchtrainierten Körper entsprach er dem Nazi-Ideal. Doch Heini sollte kein guter Germane werden, wie wir später erfahren werden. Wir wollten natürlich wissen, wo er den hinwollte und er log, dass er zum Tanzen gehen würde. Das war nicht ganz falsch, doch sollte es eher ein Tanz auf dem Vulkan werden.

      Als er gegangen war, schlich ich ans Fenster und konnte sehen, dass ihn der Weg zum Wirtshaus am Markt führte. Ich kroch zurück unter die Bettdecke und machte mir so meine Gedanken. In den nächsten Tagen hörte ich viel zu und saß schweigend in einer Ecke, so dass sie mich gar nicht bemerkten, wenn sie sich unterhielten.

      Die Ferien vergingen langsam im Siegerland und irgendwann hatte sich eine gewisse Routine eingestellt. Hermann war mit Onkel Heini ein paar Mal mit dem Motorrad gefahren und er war begeistert. Er fasste in diesen Ferien den Entschluss später einmal auch ein solches Motorrad besitzen zu wollen. Er war 13 Jahre alt und entschlossen, etwas aus seinem Leben zu machen. Bald hatte er die Schule beendet und musste sich überlegen, wie es dann weitergehen sollte. Vater hatte ihm schon allerlei Vorschläge gemacht und bei Handwerkern vorgesprochen, um seinen Sohn in eine Lehre schicken zu können.

      Hermann hatte zunächst aber nur Interesse daran, Oma hinters Licht zu führen und ihr die leckersten Köstlichkeiten vom Dachboden zu stibitzen, ohne sich erwischen zu lassen. Oma Anna bewahrte dort die Vorräte für den Verkauf im Laden auf. Da gab es Kekse und Bonbons und Schinken und Wurst und Hermann hatte keine Hemmungen, sich zu bedienen. Wenn es ihm Oma schon nicht freiwillig gab, dann nahm er sich eben, was er haben wollte.

      Die Onkel lachten, wenn Anna Reichmann mal wieder hinter Hermann her war und ihm die Ohren langziehen wollte. Sie wusste genau, welche Schätze auf ihrem Speicher lagerten und merkte sofort, wenn etwas fehlte. Dieser Rotzlöffel hat mehr kriminelle Energie wie Al Capone rief sie einmal. Anna war zwar schon älter, aber nicht doof und sie las viel Zeitung. Wenn sie auch im Falle ihres Enkels etwas übertrieb, so schien sie doch eine gewisse Vorahnung zu haben, was Hermans Zukunft anging.

      Abends erzählte der Großvater Geschichten aus seiner Jugend. Wie er Bäckerlehrling war und was er alles damals auf sich nehmen musste. Auch vom ersten Weltkrieg konnte er erzählen. Damals hatte er für die Soldaten gebacken. Viele Höhen und Tiefen hatte er in seinem Leben überstanden und nun quälte ihn langsam die Bäckerkrankheit. Er hustete ständig und bekam nur schwer Luft.

      Es war eine unbeschwerte Zeit bei den Großeltern. Wir waren den ganzen Tag draußen an der frischen Luft und abends hörten wir Geschichten von den Großeltern und den Onkeln. Und jeden Abend verabschiedete sich Onkel Heini von uns und ging ins Wirtshaus am Markt. Ich fragte ihn, was er da machen würde, doch er antwortete nur: Vielleicht die Welt ein bisschen besser machen. Beim Tanz? Wollte ich wissen. Da grinste er nur und gab mir einen Gutenachtkuss auf die Stirn.

      Ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen und dachte nach, was es wohl sein könnte, dass er so ein Geheimnis daraus machte. Dann stand ich leise auf, zog einen Bademantel über und schlüpfte in meine Hausschuhe, die vor dem Bett standen. Leise schlich ich hinaus und ging über den Marktplatz hinein ins Wirtshaus. Frau Edelmann blieb fast der Atem stehen, als sie mich entdeckte. Sie nahm mich schnell mit hinter die hohe Theke. Ich erklärte ihr, dass ich zu meinem Onkel wollte. Sie tat zunächst so, als sei er gar nicht da. Doch ich bestand darauf, ich hatte ja selbst gesehen, dass er ins Wirtshaus gegangen war. Endlich ließ sie sich breitschlagen und ging mit mir hinunter in den Keller. Ich musste ihr aber versprechen, ganz leise zu sein. In der Gaststube saßen einige SS-Männer bei Bier und Zigarren, sie sollten meine Anwesenheit möglichst nicht mitbekommen.

      Sie brachte mich in einen kleine Raum neben der Kegelbahn. Mir war ganz mulmig. Ich war mir meiner Sache nicht mehr sicher. Und Onkel Heini guckte auch nicht gerade begeistert, als er mich sah. Er saß dort mit dem Pastor Peter Klein, dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Rudolf Krämer, dem Arzt Dr. Winter, dem Apotheker Benjamin Löwe und dem Leiter des Blauen Kreuzes, Heinrich Furchtmann, der aus Überzeugung und Glaubensgründen keinen Tropfen Alkohol trinken durfte und sich deswegen als besonders guten Christenmenschen sah. Ungeachtet der Tatsache, dass er Angst hatte rückfällig zu werden und deswegen den Alkohol scheute, wie der Teufel das Weihwasser.

      Pastor Klein hingegen sah es nicht als Sünde, nach dem Abendessen ein Bier mit Wacholder hinunter zu spülen. Doch sollte der Genuss von Alkohol an diesem Abend nicht der eigentliche Grund für den Besuch in der Gaststätte sein. Onkel Heini erklärte mir, dass sie sich dort treffen würden, weil es Leute geben würde, die es nicht leiden konnten, wenn andere Menschen friedlich zusammenlebten. Aber ich hatte schon verstanden worum es ging. Ich wollte auch nicht, dass Jakob weggehen würde. Ich musste Heini versprechen, dass ich mit niemanden darüber sprechen würde und das tat ich auch. Bis zum heutigen Tag.“ Ich nehme einen Schluck Wasser.

      „Kurz vor Ferienende kam meine Mutter für ein paar Tage zu den Eltern und Brüdern nach Eiserfeld, um uns Kinder wieder mit nach Hause zu nehmen. Schweren Herzens verabschiedete sie sich von ihrem Vater, dem es nicht gut ging. Diese verdammte Bäckerkrankheit bringt mich noch ins Grab hatte Opa scherzend und zugleich keuchend zu ihr gesagt. Er schlug sich lachend mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, dabei entlud sich eine Mehlwolke aus seiner karierten Bäckerhose und erfüllte die Luft.

      Mutter hatte fürchterlich mit ihm geschimpft. Er solle doch endlich mal an sich denken und den Jungen die Arbeit überlassen. Am nächsten Tag fuhren wir mit Mutter im Zug zurück nach Hagen.

      Nach den Ferien sollte sich einiges ändern. Hermann musste zur Hitlerjugend und Vater regte sich fürchterlich darüber auf. Er fluchte, als er das Geld für die Uniform seines Sohnes auf den Tisch blättern musste und dazu auch noch einen Mitgliedsbeitrag entrichten sollte. Er schimpfte auf die braunen Rotzlöffel. Mutter fand die Sache mit der Hitlerjugend gut. Sie fand es sei besser, als wenn die Jungs auf der Straße herumlungern. Nun sammelten sie altes Eisen und Papier. Hermann schaffte es, immer ein paar Pfennige für sich abzuzweigen. Er entwickelte sich schnell zu einem kleinen Gauner. Seine krummen Geschäfte durften aber nicht auffallen, sonst würde er keine gute Bewertung vom Schaftsführer bekommen und dann konnte er eine Ausbildung vergessen. Doch wichtiger als die Ausbildung war ihm immer noch sein Traum vom Motorrad.

      Ich werde das nie vergessen, als ich ihn einmal danach fragte, warum ihm das so wichtig wäre und er antwortete, dass er jemand sein wollte. Etwas Besseres. Und nicht wie Vater, der schon so lange auf ein Auto sparte und sich immer noch keins leisten konnte. Mir war als Kind schon klar, dass er das ohne harte Arbeit wohl kaum erreichen konnte. Doch Hermann glaubte noch an Wunder, an den Goldesel, der Dukaten scheißt.

      Meister Jakob kam wie vereinbart jede Woche vorbei, um die Raten von den Ostereinkäufen abzukassieren.