Die Schuldfrage. Astrid Rodrigues. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Rodrigues
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742797926
Скачать книгу
ging zurück und damit auch die Geschäfte. Ohne die alten Kunden, wie Mutter, hätte Jakob seinen Laden schließen können. Es war schon Ende Oktober, als sie letzte Rate gezahlt hatte. Und schon wurde es wieder Zeit, die Kinder für den Winter neu einzukleiden. Sie hatte bereits in den letzten Tagen die Wintermäntel hervorgeholt und geschaut, ob sie vielleicht hier und da einen Saum herauslassen konnte. Doch Hermann war so sehr gewachsen, dass er dringend einen neuen Mantel brauchte und auch die Hosen konnte er nicht mehr tragen. Winterschuhe sollte er auch bekommen.

      Für Hermann war das letzte Schuljahr angebrochen. Im Sommer 1934 sollte er eine Lehre als Maurer beginnen, sofern er den Schulabschluss schaffte. Vater hatte mit dem Meister bereits alles besprochen. Hermann hatte in der Zwischenzeit sehr das Interesse an der Schule verloren. Kaum zu Hause angekommen, traf er sich mit seinen Kameraden. Wenn Vater ihm eine Standpauke hielt, argumentierte er immer, dass er ja auch eine gute Bewertung brauchen würde. Vater nahm es so hin, war aber nicht begeistert.

      So ging das Jahr zur Neige und wir kauften wieder einmal bei Jakob Meyberg auf Pump ein. Man hatte ihm mehrfach nahegelegt, sein Geschäft aufzugeben, sein Hab und Gut zu veräußern und das Land zu verlassen. Er und seine Familie wurden als asozial beschimpft, dabei hatte sich Jakob jahrelang für die regionalen Belange im Stadtrat eingesetzt. Er wollte nicht einsehen, dass er als Deutscher nicht mehr willkommen sein sollte. Er wollte nicht aufgeben, auch wenn immer wieder seine Schaufensterscheiben zu Bruch gingen und SA-Leute vor seinem Geschäft die Kunden abschreckten.

      Vaters Geschäft mit dem Siegerländer Brot lief ganz gut und er legte jeden Monat Geld für das neue Auto auf Seite. Einen neuen Anzug gönnte er sich in diesem Jahr nicht und auch Mutter versuchte ihre Kleider so gut es ging instand zu halten und zu flicken.

      Zu Weihnachten strickte sie für die ganze Familie Socken und packte sie ordentlich in Geschenkpapier. Am Samstag, dem 23. Dezember 1933 brachte Vater nach der Arbeit einen kleinen Tannenbaum mit nach Hause, den Mutter im Wohnzimmer auf einem kleinen runden Tisch, festlich schmückte. Die Türe wurde gut verschlossen und ein Tuch über den Türgriff gehangen, um das Schlüsselloch zu verdecken. Sie kannte uns Kinder.

      Am ersten Weihnachtstag machte Vater das Frühstück. In einer gusseisernen Pfanne auf dem Kohleherd hatte er Speck ausgelassen und Eier gebraten. Der Duft zog durch alle Räume, als er die Schlafzimmertüre öffnete, um die Familie zu wecken. Mutter hatte am Abend zuvor die gestickte Tischdecke aufgelegt, die sie im letzten Jahr gemacht hatte. Mit feinem Stich hatte sie Weihnachtssterne und Tannenäste aufgemalt. Der Küchentisch war schon festlich gedeckt, als Mutter in die Küche kam. Die Kaffeekanne versteckte sich unter einer riesigen Warmhaltehaube und das schöne, feine Porzellan mit dem Zwiebelmuster wartete darauf endlich mal wieder benutzt zu werden. Auch wir Kinder wurden von dem leckeren Duft geweckt und waren schnell fertig angezogen in der Küche. Nach dem Frühstück gingen wir in den evangelischen Gottesdienst zur evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde in Hagen Haspe in der Frankstraße. Wie üblich war die Kirche an diesem Weihnachtmorgen gut besucht. Wir fanden nur noch zwei Plätze in einer der hinteren Reihen und so saß ich auf dem Schoß meiner Mutter. Hermann musste stehen bleiben. Pastor Röhrich hatte wohl schlechte Laune, was merklich in seiner Ansprache an die Gemeinde Ausdruck finden sollte. Der gedrungene, rotwangige Mann stand in seinem Festtagsgewand auf der Kanzel hoch über seiner Gemeinde. Nachdem er die Gemeinde begrüßt hatte, legte er gleich los. Ich kann es euch heute nicht mehr genau wiedergeben, aber an einzelne Passagen erinnere ich mich sinngemäß sehr gut.

       Ich möchte euch daran erinnern, warum wir heute hier sind. Es ist der Geburtstag unseres Herrn Jesus Christus. Er ist zu uns gekommen und hat uns Nächstenliebe gelehrt. Achtung vor dem Leben. Auch und ganz besonders vor dem Leben asozialer Subjekte, zu denen Maria und Josef aus heutiger Sicht zweifelsohne gezählt hätten. Jesus jüdische Mutter und sein jüdischer Ziehvater hatten von dem neuen Christentum noch nie etwas gehört. Und nun saßen sie obdachlos in einem Stall und Maria musste ihr Kind zwischen Kühen und Schafen im Stroh zur Welt bringen.

      Ein Raunen ging durch die Reihen der gläubigen Lutheraner und man blickte sich fragend an. Maria und Josef asozial? Um Gottes Willen!

       Unsere asoziale Gottesmutter saß also in dem erbärmlichen Stall in Bethlehem und hatte nicht einmal ein richtiges Bett für sich und das Kind. Ihr Verlobter, der sich nicht daran erinnern konnte, intim mit ihr gewesen zu sein, verstand schon länger die Welt nicht mehr und musste wohl vor Liebe zu ihr blind sein. Wie sonst erklärt es sich, dass er trotzdem zu ihr hielt. Diese Geschichte übertrifft doch wirklich alles an unermesslicher Fantasie, was man sich nur vorstellen kann.

      Die Gemeinde schüttelte verwirrt die Köpfe und ein paar Frauen rafften schon ihre Handtaschen zusammen und rückten ihre Hüte zurecht, um das Weite zu suchen. Doch der Pastor war noch nicht fertig.

      Und nun frage ich Euch! Warum sind wir heute hier zusammengekommen?

      Ruhe! Die Gemeinde saß wie versteinert und in großer Anzahl in ihren Bänken. Pastor Röhrich ließ die Stille geschickt eine Weile wirken, bevor er weitermachte und seine Gemeinde schon fast anschrie.

      Ich sage Euch, warum Ihr hier seid! Ihr seid Christen, lutherisch evangelische Christen! Menschen, die Unterdrückung ablehnen! Die Nächstenliebe predigen! Vor Gott sind alle Menschen gleich! Das ist es, was uns der Sohn dieser asozialen Eltern beibringen wollte und für das wir uns so begeistert haben, dass wir es noch fast zweitausend Jahre später glauben. Und warum gibt es nun Menschen die Gleicher sind als andere?“

      Pastor Röhrich musste ordentlich Luft holen, so sehr hatte er sich in Rage geredet.

       Wir dürfen es nicht zulassen, dass unsere Freunde, unsere Geschäftspartner, unsere Nachbarn, unsere Mitbürger ihrer Rechte beraubt werden durch dumme Ideologien. Gerade heute …

      Nun standen die ersten Herren des Stadtrates auf und befahlen ihren Familien das Gleiche zu tun. Die Frauen stolperten hinter den Herren der Schöpfung her und zogen die Kinder mit sich. Die ersten fünf Familien hatten das Weite gesucht. Pastor Röhrich brachte nun seine Ansprache etwas ruhiger zum Ende.

      Gerade heute müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, dass unser Glaube nie den einfachen Weg gegangen ist. Lasset uns nun singen. Wir singen das Lied Nummer 23 in unserem Gesangbuch: Es ist ein Ros entsprungen.

      Der Pastor hatte seinem Entsetzten ordentlich Luft gemacht. Mutter war nach dieser Ansprache enttäuscht. Sie verstand nicht, was das mit Weihnachten zu tun haben sollte. Andere waren sogar nach Hause gegangen. Für Mutter war es kein schöner Gottesdienst gewesen. Vater fand, dass es längst überfällig war, dass die Kirche Stellung bezog. Aber er stellte auch in Aussicht, dass der Pastor wohl nicht mehr lange da sein würde.

      Nach dem Mittagessen setzte sich Mutter an den Küchentisch und schrieb ihren Eltern und den Brüdern lange Briefe. Sie vermisste ihre Familie. Gerade zu Weihnachten sollten alle zusammen sein, doch das ging leider nicht. Vater heizte den eisernen Ofen im Wohnzimmer. Dieses Zimmer wurde nur zu besonderen Anlässen genutzt. Die Briketts brachten eine heimelige Wärme in die ganze Wohnung. Ich lag auf dem schweren Teppich und betrachtete verträumt den wunderschönen Weihnachtsbaum, dessen Kerzen Vater heute schon angezündet hatte. Er erstrahlte in einem so feierlichen Glanz, wie ich ihn zuvor noch nie gesehen hatte. Gottes Sohn musste schon etwas ganz Besonderes sein, dass sein Geburtstag von so vielen Menschen auf der ganzen Welt gefeiert wurde. Es gab kein Fest im ganzen Jahr, das so schön war wie das Weihnachtsfest. Am Abend sollten wir unsere Geschenke bekommen, obwohl wir gar nicht Geburtstag hatten. Hermann konnte es kaum noch abwarten. Er hoffte, endlich die Eisenbahn zu bekommen, die er sich schon so lange gewünscht hatte. Doch Vater hielt ihn längst zu alt für ein solches Geschenk. Schließlich sollte er bald in die Lehre beim Bauunternehmer Mayer gehen, da würde er gar keine Zeit mehr für Spielereien haben. Trotz der bösen Predigt von Pastor Röhrich ging das Jahr 1933 friedlich zu Ende, zumindest für die meisten seiner Einwohner auf der nördlichen Erdhalbkugel in Höhe des deutschen Reiches. In Amerika brachten Laurel und Hardy, als Dick und Doof, die Menschen mit ihrem neuen Film „Die Wüstensöhne“ zum Lachen. In Deutschland hatten viele Menschen Angst vor einer ungewissen Zukunft.“

      Конец ознакомительного