Vergnügt und voller Erwartung ging Line nun mit den anderen Kindern rechtzeitig zu besagter Mauer.
Der Wind jonglierte mit den cremefarbigen Blütentellern des Holunderbusches, und die Sonne warf wackelnde Schatten auf die Mauer, an der Tim lehnte und schon auf sein Publikum wartete.
Ganz wichtig bewegte er sich auf die Kinder zu und forderte sie auf, sich dicht nebeneinander zu stellen, denn es sollte nur eine Reihe geben, in der zweiten würde man nicht zu sehen bekommen, was so sehenswert werden würde.
Und nun erklärte er, worum es ging.
Mit allem hatte Line gerechnet, aber damit nicht.
Es ging um eine Warze, und zwar um seine dicke Warze am Knie.
Und er machte es zur Bedingung, dass noch ein letzter Blick auf sie geworfen werden sollte, und zwar aus nächster Nähe.
Dazu hob er das Bein leicht an und hielt es dann mit gefalteten Händen in der Kniekehle in die Höhe.
Das ist ja widerlich, dachte Line.
Jeder wüsste doch, wie eklig eine Warze aussah.
Doch sie hatte sich geirrt, wenn sie das glaubte, denn die Nasen der anderen Kinder berührten inzwischen ziemlich begeistert beinahe diesen ekelhaften, bleichen, blumenkohlähnlichen Auswuchs. Dann stellte Tim sich breitbeinig hin und gab zu verstehen, dass sie gleich die einmalige Gelegenheit hätten, zuzusehen, wie er in kurzer Zeit dieses eklige Ding loswerden würde. Von der Großmutter wusste Line, dass man eine Warze mit einem Zwirnfaden abband, damit keine Blutversorgung mehr stattfand. Das bewirkte, dass sie abstarb und nach wenigen Tagen abfiel.
Bei Vollmond begrub man sie dann unter einer tropfenden Regenrinne und war sie für immer los. Es gab aber auch Frauen, mit einer besonderen Gabe, die Warzen besprachen, damit sie verschwanden. Aber beides funktionierte nur, wenn man ganz fest daran glaubte.
Nun bat Tim seine Zuschauer um die volle Aufmerksamkeit.
Er holte tief Luft, nahm allen Mut zusammen und rief mit starker Stimme: „Achtung, seid ihr bereit zu erleben, wie diese Warze entfernt wird, dann wendet eure Blicke nicht ab!“
Nicht nur Line stockte der Atem und niemand gab einen Laut von sich.
Und sie hielt sich vorsichtshalber die Augen zu, aber nur so weit, dass sie trotzdem noch freie Sicht auf Tim hatte, denn verpassen wollte sie auf keinen Fall etwas.
Tim presste seine Lippen zu einem feinen Strich zusammen, sah noch einmal beschwörend in die gespannten Gesichter, fand mit der flachen Hand an der Mauer Halt, schwenkte dann entschlossen sein Bein erst nach rechts, dann mit Schwung nach links und schabte mit einem lauten „Ratsch“ die Kniescheibe mit der dicken Warze an der rauen Mauer entlang.
Line bekam eine Gänsehaut bei der Vorstellung, was da geschehen war.
Die anderen Mädchen kreischten hinter vorgehaltenen Händen „Iiiiiiiiiiih“.
Die Jungen hingegen waren voller Respekt und bekundeten das mit einem anerkennenden „Ohuu!“
Grün im Gesicht und mit der Hand noch fest mit der Mauer verbunden, drehte sich Tim stolz nach seinem Publikum um. Dabei vermied er es sorgsam, sein Knie anzusehen, das jetzt heftig blutete. Das Blut, das als dünner, glänzender Streifen an seinem Bein herunter lief, im Strumpf verschwand und ihn nicht wehklagen ließ, machte ihn zu einem wahren Helden.
War die Warze jetzt wirklich weg?
Um das zu ergründen, beugten sich ausschließlich die Jungen über das blutende Knie und stellten laut und deutlich fest, dass es keine Warze mehr gab.
Doch nun tauchte die nächste Frage auf: „Wo war sie?“
In die Hocke gegangen, durchwühlten sie das Gras, wobei sie mit hellgrünen Flechten und Moosen umschlossene Stöckchen zu Hilfe nahmen, die der Holunderbusch beim letzten Sturm abgeworfen hatte.
Als alle Köpfe zusammensteckten und viele Hände und Augen bis hinunter an die Grasnarbe alles gründlich absuchten, war die Warze endlich mit einem Freudenschrei gefunden und auf einem großen Spitzwegerichblatt, blutleer und kaum wieder zu erkennen, zwischen den Jungenfüßen im Gras aufgebahrt worden.
Tim, noch immer grün im Gesicht, grinste gefasst aber unendlich zufrieden.
Line und die anderen Mädchen hatten den Ort des Grauens zwar angeekelt, aber mit unsagbar großer Bewunderung für Tims Heldentat, sich das getraut und das Blut und den Schmerz ohne zu jammern ertragen zu haben, längst verlassen.
Line ging nicht mit ihnen und hatte sich dann mal wieder abgesondert.
Ihr war der wunderschöne, hellgrüne, samtene Teppich aus Entengrütze wieder eingefallen, den sie Tage zuvor entdeckt hatte. Der Teppich war so groß, dass er den breiten Graben von einem Ufer zum anderen bedeckte. Sie ging rasch ihrem Ziel entgegen und am Ufer des Grabens in die Hocke. Mit großer Ergriffenheit schaute sie auf die Millionen winziger, hellgrüner Blättchen, die dicht aneinandergedrängt keinen Blick auf das dunkle Grabenwasser zuließen, und sie wünschte sich nichts mehr, als diesen Teppich nur einmal ganz wenig mit den Fingerspitzen zu berühren. Doch dabei wagte sie sich zu weit vor, erkannte schnell, dass sie das Gleichgewicht zu verlieren drohte, ruderte noch Hilfe suchend mit den Armen und kippte dann wie in Zeitlupe nach vorn und dann unaufhaltsam mit dem Gesicht voran in die Entengrütze.
Line spürte staunend, wie sie langsam in dem wunderschönen Hellgrün versank.
Sofort spürte sie das kalte Wasser, das durch ihre dicke Schafwolljacke über ihre Haut kroch und hörte es in den Ohren glucksen und leise rauschen.
Mit offenen Augen erlebte sie die alles verschlingende, dunkle Unterwasserwelt, in der sie nichts, aber auch gar nichts erkennen konnte.
Und ohne sich zu bewegen, tauchte sie dann wieder auf und begann sofort wild mit Armen und Beinen zu strampeln.
Aus ihrem Mund war kein Laut zu hören.
Nur eine ordentliche Menge Grabenwasser und mindestens einen gehäuften Löffel voll Entengrütze spuckte sie in weitem Bogen aus. Dann holte sie mit einem tiefen Atemzug Luft, während sie weiterhin alles tat, um nicht wieder zu versinken.
Aus ihrer nassen Fischperspektive, waren nun schwarze Stiefel zu sehen, die kraftvoll immer wieder von einem Ufer zum anderen sprangen.
Für Line unbegreiflich, weil sie darin keine direkte Aktion für ihre Rettung erkennen konnte, mit der es doch etwas eilte, wenn sie noch lebend geborgen werden sollte.
Und während ihre Muskeln erschlafften und sie erneut versank, dabei wieder reichlich Grabenwasser schluckte und über ihr wild hin und her gesprungen wurde, versuchte sie mit letzter Kraft zu überleben und strampelte durch den hellgrünen Entengrützenteppich ebenfalls von einem Ufer zum anderen, nur nicht synchron mit den Stiefeln, so dass es ihrem Retter nicht möglich war, sie mit der Hand, die er immer wieder nach ihr ausgestreckt hielt, zu packen. Die Aussichtslosigkeit, ihrer habhaft zu werden, ohne dass er selbst im Graben landete, ließ ihn barsch nach einer Forke schreien, mit der man Kuh- und Schweineställe ausmistet, die ihm auch umgehend im Laufschritt gebracht wurde.
Line sah entsetzt auf die langen, spitzen und dreckverkrusteten Zinken der Forke über sich und bekam grauenhafte Angst, entweder durchbohrt oder ertrinkend, jeden Augenblick sterben zu müssen.
Und wie von ihr befürchtet, kam die Forke näher und näher und spießte sie tatsächlich auf. Sie fühlte deren Aufdringlichkeit an ihrem Rücken, jedoch ohne einen Schmerz zu empfinden, den sie erwartet hatte und der beim Durchbohren ihrer Haut doch nicht ausbleiben würde. Aber ihr Retter hatte mit der Forke geschickt in die groben Maschen ihrer dicken Schafwolljacke gestochen, sie dann wie einen dicken Fisch aus dem Wasser geangelt und eine Winzigkeit lang über dem Graben in die Höhe gehalten.
Zu ihrem Entsetzen hatte Line ein großes, schwarzes Wasserloch in dem wunderschönen, hellgrünen Entengrützenteppich