Und dann kam Lines Mutter, die von dem Getöse in der Wohnung unterrichtet worden war. Sie musste wie wild gerannt sein, um den Schlüssel im Schloss schon nach so kurzer Zeit umzudrehen. Hinter ihr drängten sich sämtliche Bewohner des Hauses ins Zimmer. „Oh, mein Gott, die Kinder, die Ofenkrone ist heruntergefallen, kein Wunder, dass es so gekracht hat! Und da, da liegt Birte, ist sie tot und wo ist Line, Ohgottohgott, so ein Unglück“.
Birte war sofort von helfenden Händen umringt, wurde vorsichtig aufgehoben und auf das Bett gelegt. Line schrie unter dem geklumpten Federbett schrill auf, als sie die leblose Birte auf sie betteten. „Line, du meine Güte, Line, da bist du“. Die schnellen Handgriffe und suchenden Augen ihrer Mutter hasteten über ihre unverletzten Körperseiten, und erleichtert und mit sanfter Stimme fragte sie: „Wie ist denn das passiert“, und dabei half jemand, Line unter Birte hervorzuziehen, die so schwer war, wie ein Sack Kartoffeln.
Der weiße Krankenwagen mit dem roten Kreuz auf beiden Seiten, war gerufen worden und stoppte seine schnelle Fahrt vor dem Haus von Frau Mu. Ein Arzt sprang aus dem Auto und rannte mit seiner braunen, bauchigen Tasche die Treppen hinauf und kümmerte sich bald darauf um die bewusstlose Birte ohne Gesichtsfarbe.
Sie betteten sie auf eine Trage, schleppten sie die Treppe hinunter und schoben sie durch die beiden geöffneten Türen in den Krankenwagen.
Line hörte ihn wegfahren und begann dann zu weinen.
Die Hausbewohner standen dann hilflos und untätig herum.
„Die Krone wird wieder befestigt, da kommt morgen jemand, Hauptsache Birte wird rasch gesund und Line ist nichts passiert, was hat der Arzt eigentlich gesagt, was ist mit Birte, ist es schlimm?“
Frau Mu kümmerte sich.
„Er vermutet ein schweres Schädelhirntrauma“, flüsterte Lines Mutter besorgt.
Birte hat Glück im Unglück gehabt.
Sie war mit dem Kopf hart aufgeschlagen, als sie hinfiel. „Aber lieber das, als unter der schweren Ofenkrone begraben zu sein“, seufzte Frau Mu und schaute dabei auf die staubigen Holzdielen zu ihren Füßen.
Dass Birte außerdem auch einen Schock hatte und wie schlimm das wäre, das erfuhr Line erst am nächsten Tag.
Jetzt brauchte ihre Cousine viel Ruhe, um wieder ganz gesund zu werden.
Aber auch Line kam nicht ganz ungeschoren davon.
Mit einem Kloß im Hals und den Tränen ganz nahe, hörte sie ihrer Mutter zu, die wohl zwischen der abgerissenen Antenne und der Matratze zwischen den Fenstern einen direkten Zusammenhang mit der gestürzten Ofenkrone sah und vorwurfsvoll zu ihr sprach: „Ich dachte, du bist schon so vernünftig und schläfst, wenn ich nicht da bin, aber da habe ich mich in dir wohl sehr getäuscht“.
Es wäre Line lieber gewesen, wenn sie bei diesem Unglück ein gebrochenes Bein oder eine dicke, blutende Beule davongetragen hätte. Die Sorge ihrer Mutter wäre dann groß gewesen, und ein kaputtes Bein oder eine Beule wären über kurz oder lang geheilt. Aber die Enttäuschung, die sie ihrer Mutter bereitet hatte, war in ihr eine Wunde, die niemand sah und die lange Zeit nicht heilte, bei ihr nicht und vielleicht auch bei ihrer Mutter nicht, und das war für Line ein bleibender Schmerz in ihrer Brust.
Und trotzdem war aus Line und Birte auch später nicht herauszubekommen, wie es eigentlich wirklich zu dem ungewöhnlichen Platzwechsel der Ofenkrone gekommen war.
Beide schwiegen wie ein Grab.
Die Matratze verschwand bald darauf aus der Wohnung, und mit ihr verschwand auch ein Stück Erinnerung an Lines Vater.
5. Kapitel
Die Jahre vergingen, und Line wuchs heran wie alle Kinder ringsherum.
Ihr Leben war prallgefüllt mit Eindrücken und täglich kamen neue hinzu.
Sie lernte aus Erfahrungen und wurde zunehmend kritisch.
Ihre Mutter sorgte bei ihr für ein gesundes Selbstbewusstsein, so dass Kränkungen sie schwer erreichten und sie eher Mitgefühl für die Täter empfand, als sich zu ärgern.
Line war aufgeschlossen und kannte die meisten Kinder in ihrer Umgebung längst sehr gut. Sie wusste mit jedem umzugehen, die zu meiden, mit denen sie schlechte Erfahrungen gemacht hatte und war vorsichtig im Umgang mit denen, die ihr nicht ganz geheuer waren. Sie petzte nicht und hörte aufmerksam zu, wenn jemand ihr etwas erzählte und gab kein Geheimnis preis, das ihr jemand anvertraute. Und so hütete Line nach dem Friedhofsknochen- und Ofenkronengeheimnis einige Zeit später noch mehr Geheimnisse, von denen sie die wichtigsten mit ins Grab nehmen würde, wie sie von der Großmutter immer wieder hörte, dass man das machen konnte.
Und wie einfach es war, ein Geheimnis entstehen zu lassen, dabei half ihr eines Tages die ahnungslose Turnlehrerin.
Die hatte den Spitznamen „Stelze“, weil sie groß und mager war.
In der Turnhalle trug sie einen eng anliegenden dunklen Turnanzug mit unregelmäßigen und wie mit feiner Feder gezeichneten weißen Ringen unter den Armen. Beim sich „Warmmachen“ vor ihren mit schriller Stimme gebrüllten Anweisungen für körperliche Ertüchtigung, verlor sie dann für kurze Zeit völlig ihre sonst übertrieben straffe Körperhaltung. Wenn sie dann mit geschlossenen Augen in sich zusammenfiel, erinnerte sie Line an einen ausrangierten, schlaffen Gummiball.
Die Stelze würzte ihren Unterricht hin und wieder mit seltsamen Spielen, die nach Lines Ansicht nichts mit dem Sportunterricht zu tun hatten.
So forderte sie zum Beispiel die Schülerinnen auf, sich dicht nebeneinander in einen Kreis zu stellen. Dann suchte sie ein Mädchen aus, das mit geschlossenen Augen und auf allen Vieren außen um den Kreis herumkriechen und sich auf ihren Zuruf „Halt“, nicht mehr rühren sollte.
Ohne die Augen zu öffnen, durfte das Mädchen dann sein Gegenüber betasten, um heraus zu finden, um welche Klassenkameradin es sich handelte.
Wurde richtig geraten, durfte die von der Stelze tüchtig Gelobte außerhalb des Kreises bleiben und eine weitere Kandidatin aussuchen, die ihr Gegenüber dann vielleicht nicht erriet und zur Strafe wieder in den Kreis zurückmusste.
Irgendwann kam jede mal dran und eines Tages hatte Line sogar zweimal das Glück.
Während sie beim ersten Mal auf allen Vieren, mit dem Gesicht auf Pohöhe der Klassenkameradinnen, ihre Runden zog, kam sie immer wieder an einer Hose vorbei, die einen unverkennbaren Geruch verströmte. Line fand das unglaublich eklig und merkte sich, dass dieser Po neben der dicken Holzsäule stand, an die sie bei jeder Runde mit dem Fuß stieß, so dass sie später wusste, wer dermaßen stank.
Das laute „Halt“ der Stelze ließ Line vor einem der Mädchen auf allen Vieren verharren, dann aufstehen und tasten, nicht erraten und sich dann zurück in den Kreis zu stellen, um schon wenig später wieder in Aktion zu treten.
Der Zufall kam ihr gerade recht.
Sie befand sich tatsächlich genau vor der markant duftenden Hose, als die Stelze „Halt“ rief.
Line richtete sich auf und hielt auch diesmal die Augen fest geschlossenen.
Nicht wenig theatralisch ließ sie die Hände vor ihrer Brust in der Luft spielen, und ohne das Mädchen zu betasten, aber hochkonzentriert zu erscheinen, nannte sie gedehnt seinen Namen. Die „Stelze“, die Line genau beobachtet hatte, und ihr somit nicht unterstellen konnte, gemogelt zu haben, fragte erstaunt: „Woher weißt du das, du hast sie doch gar nicht angefasst?“
„Ich kann sie durch die Luft fühlen“, sagte Line überzeugend langsam und wichtig.
Die „Stelze“ ließ einen merkwürdig erstaunten Blick über Line gleiten und sagte tief beeindruckt: „Das kannst du? Dann hast du ja eine ganz außergewöhnliche Gabe!“
Line