„Wie bei einem Mückenstich“, hatte Line wissen wollen.
„Ja, wie bei einem Mückenstich!“
Eine andere Bewohnerin, die mit dem gemeinen Spitznamen „Häwk“ herumlief, weil ihr die große, schmale Hakennase ziemliche Ähnlichkeit mit einem Habicht gab, war nie zu übersehen. Ihre gebräunte, mit tiefen Falten durchfurchte Haut sah wie Leder aus, und ihre schwarzen Haare waren mit grauen Strähnen durchzogen und hingen klebrig und wirr um ihren Kopf. Sie trug jeden Tag denselben tief dunkelroten, bauschigen Rock. Er war so lang, dass er mit dem Saum den Hof sauber hielt und dementsprechend schmutzig.
Line beobachtete immer neugierig, wie „Häwk“ dann verzweifelt stundenlang über den Hof irrte und dabei kaum vorwärts kam.
Ihre Augen fixierten die Stelle, auf die sie treten wollte. Sie hob ihren Fuß ein wenig an, setzte ihn jedoch nicht auf, sondern machte ängstlich zwei Schritte zurück, als läge dort etwas Gefährliches. Dabei wimmerte sie in hohen Tönen und zerkratzte sich dabei die Unterarme.
Und wenn der alte Mann an der ockergelben Wand der Waschküche lehnte, schlich sich Line auch heimlich in seine Nähe, um zu hören, ob er wieder mit jemandem sprach, der gar nicht da war. Dann hörte Line ihn beschwörend rufen: „Geh da weg, da fällst du hin, das geht so nicht, lass das lieber sein!“
Dann lachte er laut und vergnügt, ging in die Hocke und breitete die Arme aus, schlang sie um etwas Imaginäres, richtete sich auf und drehte sich einige Male um die eigene Achse. Dabei sah er sehr glücklich aus, und seine Augen wanderten am Himmel entlang, bis er plötzlich ängstlich innehielt.
Und als wäre alle Kraft aus ihm gewichen, ließ er die Arme fallen.
Sein Gesicht wurde unendlich traurig, er torkelte und lehnte sich wieder an die ockergelbe kalte Wand der Waschküche, die ihm den Halt zu geben schien, den er jetzt brauchte.
Und dann wartete Line darauf, dass seine Schultern nach vorn fielen und zuckten.
Sie wusste, gleich würde sein Kopf auf die Brust sinken.
Gebannt starrte sie auf das Gesicht, das sich in Sekunden auch diesmal wieder zu einer grauenhaften Fratze verziehen würde.
Line atmete dann flach und wartete auf seine Tränen und das leise Schluchzen.
Sie dosierte ihr Mitgefühl auch hier auf ein für sie erträgliches Maß und übte sich darin, indem sie dem weinenden Mann nur wieder so lange zusah, bis sie genug hatte.
Dann drehte sie sich um und ging.
Dabei steckte ihre Hand in ihrer Kleidertasche und umklammerte den kleinen, bleichen Knochen vom Friedhof, ihr Geheimnis!
4. Kapitel
Line hielt ständig Ausschau nach etwas, was es zu entdecken gab, was ungeahnt und verborgen, endlich aufgeklärt wurde, was geheimnisvoll blieb oder lang andauernde Neugier durch neue Erkenntnis endlich befriedigte.
Der schmale Holzsteg am Fleetufer vor Frau Mus Haus, zu dem es drei unebenmäßige Steinstufen nach unten ging, drängte sich in den Schilfgürtel und war Lines Lieblingsplatz. Hier saß sie häufig, wenn sie allein sein wollte – und sie war gern allein.
Dann schaute sie auf das träge dahin fließende Wasser, auf das blassgrüne, wogende Schilf und entdeckte im Frühling die vielen zierlichen, hellblauen Libellen, die auf den schmalen Blättern saßen.
Und wie gut, dass Line gekommen war und sich umgeschaut hatte.
Zwei von ihnen waren nämlich an den Schwanzenden zusammengeklebt, und Line beobachtete besorgt, wie beschwerlich es für sie war, so aneinandergekettet, zu fliegen.
Und sie schafften es auch immer nur ein kleines Stück.
Ihre Kraft reichte immer gerade aus, um auf dem nächsten Schilfblatt zu landen.
In der unbequemen Stellung verharrten sie dann auch völlig erschöpft, lange, lange Zeit.
Line schaute sie mitleidig aber auch überrascht an, denn sie formten mit ihren langen, dünnen Körpern ein zierliches hellblaues Herz.
Aber so konnten sie doch unmöglich für immer bleiben, dachte Line.
Das war doch kein Leben.
Und voller Mitgefühl nahm sie sich ihrer an und zog sie ganz vorsichtig und langsam auseinander, während die zierlichen Libellen mit ihren dünnen Beinchen strampelten und wie wild mit den transparenten Flügeln schlugen, als wenn sie spürten und froh darüber waren, dass ihnen endlich geholfen wurde.
Es ging dabei auch völlig unblutig zu, und ihr Elend hatte bald ein Ende.
Und Line fühlte sich gut und als Retterin.
Zufrieden sah sie ihnen hinterher, wenn sie glücklich über das Fleet flogen.
Aber kaum waren sie weg, hatten schon die beiden nächsten Libellen das gleiche Problem. Und auch denen konnte Line sofort helfen.
Ebenso erbarmte sie sich im Sommer auch der Junikäfer, die sie in unbequemer Haltung auf den flachen, weißen Schafgarbenblüten entdeckte, und die an herrlichen Sonnentagen unglücklich übereinander kauerten, weil auch sie unten zusammengeklebt waren.
Die rotbraunen Käfer reagierten im Gegensatz zu den sanften Libellen aber immer ein wenig trotzig auf Lines gut gemeinte Hilfe und kleckerten ihr einen bitter riechenden, rotbraunen Saft auf die Finger.
Aber das kannte sie schon von den kleinen Marienkäfern mit dottergelbem Saft und nahm es ihnen nicht weiter übel.
Voller Stolz erzählte Line ihrer Mutter von ihrer barmherzigen Rettungsaktion, die sie den
bedauernswerten Libellen hatte angedeihen lassen und begriff einfach nicht, warum sie die Geretteten zu einem völlig falschen Zeitpunkt, nämlich erst, nachdem Line sie aus ihrer prekären Lage befreit hatte, bedauerte mit: „Ach, das hast du gemacht? Die Armen!“
„Aber sie brauchen dir nicht leid zu tun, ich habe sie doch gerettet“, rief Line, und ihre Mutter strich ihr über den Kopf und sagte: „Es ist gut, Line!“
Und dabei lächelte sie, und Line war dann sehr zufrieden.
So erlebte Line ganz bewusst den Frühling und das Erwachen der Natur nach dem langen Winter und danach den Sommer in seiner grenzenlosen Fülle von Hitze, Schwüle, Gewittern Insekten und hin und wieder Essbarem von Feld und Flur.
Es war abends lange hell, und am Morgen gab es nicht nur ein Vogelkonzert in den hohen Eichen, sondern sie hörte das muntere Zwitschern von überall her, noch bevor sie von ihrer Mutter geweckt wurde. Dann sprang sie aus dem Bett und schaute neugierig aus dem Fenster zu dem Nest in einer der alten Eichen, in dem vor einiger Zeit die kleinen Tauben geschlüpft waren, die nun bald flügge werden würden. Line hatte selbst auch das unsagbar stolze Gefühl, schon ziemlich groß zu sein, wenn ihre Mutter ihr mitteilte, dass sie am Abend gerne mal wieder ohne sie einen Besuch machen würde. Und damit Line nicht alleine in der Wohnung blieb, wurde ihre zwei Jahre ältere Cousine angefordert, die aufgrund ihrer Stellung als
„Aufpasserin“ mit einem außerordentlich vernünftigen Gesichtsausdruck ihren Posten einnahm.
Birte blieb dann auch über Nacht.
Niemals wurde kostbare Zeit mit Schlafen vergeudet, wenn Lines Mutter dann abends mit lautem Krach den Schlüssel im Schloss umdrehte und Line und Birte aufmerksam auf ihre Schritte auf der Treppe nach unten lauschten.
Birtes Verantwortung wurde alsbald von Phantasien ersetzt, die keine Grenzen kannten, wie diese Stunden ohne Aufsicht zu ihrer und Lines Freude gestaltet werden konnten. Sie zögerte nie lange und setzte ihre Vorstellungen schnell in die Tat um, nachdem sie sich gründlich in den Zimmern umgeschaut hatte.
Zwischen den beiden hohen Fenstern des Wohnzimmers, stand hochkant