Unbewältigte Vergangenheit. Henry Kahesch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Henry Kahesch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738007732
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Kopf und schaute an die besagte Stelle unter der Holzbrücke. Aus der Ferne, sollte ihn einer beobachten, musste man ihn für einen Verrückten halten. Wenn das zutrifft, dann rollte ein großer Kriminalfall auf Rügen zu. Schwirrte ihm durch den Kopf. In der dunkelsten Ecke lag tatsächlich etwas. Jetzt war es ihm klar, das war keine Halluzination! Das Etwas schimmerte leuchtend hell, schien weiß zu sein. Nur deshalb fiel es ihm wohl überhaupt auf, fand er. Chantal schaute währenddessen in eine ganz andere Richtung. Von alledem bekam sie nichts mit.

      „Provozierte da jemand Aufmerksamkeit?“, schoss es ihm durch den Kopf. Die Neugierde packte ihn, auch wenn er vor lauter Angst bald schlottrige Knie bekam. Ja, auch ein Hobbykriminologe ist manchmal schwach! Er spekulierte, bevor er unter die Brücke ging, was es ein könnte. Hell schimmernd, aussehend wie ein Gerippe. Was konnte sich dahinter verbergen? Das war ihm nun wirklich zu suspekt. Schließlich fasste er sich ein Herz und stieg unter die enge Treppe. Erste Schweißperlen liefen schon die Stirne runter. Nein, es war nicht nur der Schweiß durch die Sommerhitze. Nein, es war Schweiß der Spannung, erzeugt durch die Ängste, die sich in ihm stauten. Adrenalin wurde in großen Mengen freigesetzt. Dann fasste er es an, dass Etwas, wie er es nannte. Und tatsächlich, in dem weißen Paket steckten knochige Teile. Hin und her drehte er es, wollte es öffnen! Verwarf es wieder. Der Mut, der ihn anfänglich stark machte, schien seinen Körper verlassen zu haben. Chantal, die immer noch am Strand weilte, hegte keinen Verdacht. Sie stand nach wie vor interessiert herum und beobachtete in alle Richtungen. Seine Neugierde gewann wieder Oberhand. Erneut schaute er das weiße Päckchen an. Sehr vorsichtig, gar sorgfältig, nahm er es an sich und fühlte, immer wieder. „Ja“, sagte er sich, „das muss es sein!“ Aussprechen mochte er es nicht. Handelt es sich wirklich um eine menschliches Skelett? Oder träumte er es bloß? Beides war natürlich möglich, sinnierte er. Plötzlich grinste er spöttisch, wenn auch verhalten. Ihm fiel ein, dass es schließlich Kunststoffteile sein könnten. „Sicher hat sich hier jemand einen Scherz erlaubt! Wenn auch einen ziemlich derben!“ , redete er leise vor sich hin. Seine derzeit ambivalente Haltung machte es ihm nicht einfacher. Eins jedoch war ihm offensichtlich: da muss was passiert sein! Dann hatte ihn seine Hobby kriminalistische Neugierde endgültig im wieder im Griff. Die Geschichte wollte er sich keinen falls entgehen lassen. Gut so! Nur mit dieser Motivation war er in der Lage klar zu denken, zu rationalen Ergebnissen zu gelangen. Und wie zur Beruhigung sagte er selbst motivierend: „Vorhin lag es jedenfalls nicht hier“.

      Als er aus der Dunkelheit hervortrat, schaute er zu seiner Frau. Mit ernster Miene rief er ihr etwas zu. Da sie immer noch einige Meter Richtung Strand stand, konnte sie, bei dem derzeitigen Stimmengewirr und dem sich anbahnenden Orkan, sicher nichts hören. Unmöglich sagte er sich! Auspacken und anfassen wollte er nichts. Schließlich wusste er, dass für die kriminaltechnischen Untersuchungen von hoher Relevanz war, dass keine zusätzlichen Fingerabdrücke darauf abgebildet wurden. Aber was sollte er Chantal erklären? Seine Unsicherheit kehrte zurück. Laut, aber nicht schreiend, rief er zu ihr hinüber: „Was soll ich bloß tun?“ Diesmal hatte er Glück, denn Chantal, die ebenfalls seine Richtung suchte, wurde aufmerksam. Das gewisse Etwas, wie er es zunächst nannte, gab er ihren Blicken nicht frei, noch nicht! Deshalb stellte er sich so, dass sie es nicht erkennen konnte. Flott auf ihn zusteuernd, derweil er immer noch vor der Brücke stand, sagte sie: „Was treibst du denn hier Michel? Was ist los?“ Seiner Sache unsicher meinte er: „Dachte da läge was. Aber jetzt kommt es“, stotterte er umständlich. Zurückhalten konnte er es nicht, so aufgeregt war er wieder geworden. „Es ist was Schreckliches, denke ich.....“ „Was Schreckliches“, wiederholte sie. Was meinst du damit? Und ihr Gesicht verzerrte sich zu einer düsteren Grimasse. Er konnte nicht anders, musste seiner Frau sofort reinen Wein einschenken. Für sich behalten, das war keine Lösung, entschied er. „Schau, da liegt etwas. Nach meinen ersten Recherchen gehe ich davon aus, dass es ein Skelett ist“, ergänzte er seine Ausführungen ohne dabei richtig Luft zu holen. Seine ihm eigene Sachlichkeit trat wieder in den Vordergrund. „Wie, was? Unsinn, da lag doch zuvor überhaupt nichts! Wir hatten schließlich gemeinsam auf dem Weg hierher noch darunter geschaut. Gut zufällig, aber wir schauten hin. Das weiß ich definitiv. „Du sagtest noch: Wie sauber ist es hier unter der Treppe. Das ist nicht überall so! Nein, nicht weil wir was suchten, vermuteten, sondern aufgrund unserer natürlichen Neugierde.“ „Ja ..., ja, aber nun liegt es eben hier!“, gab Degoth ungestüm von sich.

      Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass der Bursche, der ihn vor wenigen Stunden ansprach, die Wahrheit gesagt haben musste. Sellin lag in der frühen Nachmittagssonne friedlich vor ihnen. Michel Degoth und seine Frau Chantal betraten gerade den Strand des Seebades. In diesem Jahr, so erzählte Michel, der bereits mehrfach die Insel besuchte, würde der Sand in einem geheimnisvolles Weiß leuchten. All die Jahre zuvor hätte er es so nicht erfasst. Chantal schaute verschmitzt lächelnd zu ihm rüber. Konnte nicht wirklich begreifen, was er mit dieser Aussage zu verstehen geben wollte. Beide strotzen vor Tatendrang. Man sah es ihnen an. Nichts, aber auch nichts konnte sie aufhalten einen erlebnisreichen Sommerurlaub zu verbringen. Es galt, ihre Freiheit aus der Knute des Alltags hinter sich zu lassen. Da aber passierte es. Ein Fremder belaberte sie. Seinen Namen wollte der nicht herausrücken. Er erzählte eine unglaubliche Geschichte. Da ging Degoth durch den Kopf, dass diese Story Auswirkungen auf die ganze Insel Rügen haben könnte. Doch schnell verwarf er es und begleitete es zunächst mit einem müden Lächeln.

      „Kann nicht wahr sein, so eine hin gedichtete Erzählung, nein, dass ist zu weit hergeholt.“ Ihren Weg zur Uferpromenade setzten sie dabei fort. Damit wollten sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wenn da was sein sollte, kann der Mann zur Polizei gehen. Schließlich ist sie für solche Fälle der richtige Ansprechpartner. Aber ganz aus dem Auge wollt er es nicht verlieren. Sein Hauptproblem unterdes, bestand in Gedanken darin, wie er es Chantal beibringen könnte, wenn er sich wirklich zur Verfügung stellen sollte. Was würde sie diesmal sagen? „Es würde wieder Unstimmigkeiten verursachen“, sagte er sich und schaute Chantal von der Seite an. Die ahnte von seinen Gedanken noch nichts.

      Er machte sich auf den Weg um in ruhiger Umgebung das Thema mit der Polizei zu besprechen. Ja, eine Meldung wollte er machen. Bewusst nutzte er nicht das Mobiltelefon. Das war ihm nun doch zu kritisch. In dem nächst besten Hotel, er hatte schon eins ins Auge gefasst, wollte er das erledigen. Auf dem Weg dahin, kam ihm wieder der seltsame Kellner und die Szene am Strand in den Sinn. Dabei war er sich gar nicht sicher, ob die etwas unbilliges taten. Doch sicher ist sicher, sagte er sich und dachte dabei, dass es bestimmt sein Gespür für kriminalistische Hintergründe sei. Jetzt nahm er den Aufzug, um möglichst schnell auf die Strandpromenade Sellins zu gelangen. Das Hotel Marina, welches ihm vorschwebte, lag in unmittelbarer Nähe. Ohne Umschweife steuerte darauf zu. An der Rezeption saß eine Dame, die ihn freundlich begrüßte.

      „Was kann ich für sie tun mein Herr?“

      Etwas verlegen bat er: „Können sie mich bitte mit der Polizei verbinden?“

      Sie runzelte die Stirn und erwiderte: „Mit der Polizei, was ist passiert?“

      Aus dem Tonfall konnte er ihre Neugierde erkennen. Zugebenen, gesunde Neugier. Aber er ließ es sich nicht anmerken. Schon gar nicht herauskitzeln. Einer solchen Person gesagt, ist wie der Presse direkt in die Feder diktiert.

      „Ich bitte um Verständnis, aber das ist mit wenigen Worten nun wirklich nicht zu erklären und zudem ist es ausschließlich für die Ohren der Polizei bestimmt.“

      Er stellte sich als Kriminologe – dabei vernachlässigte er das Wort „Hobby!“ – vor.

      „Ja wenn das so ist!“

      „Bitte gehen sie in Kabine drei, hier hinten um die Ecke, rechts.“

      Sie zeigte mit ihrem Zeigefinger der linken Hand in die besagte Richtung. „Und jetzt verbinde ich sie mit der Zentrale der Rügener Kripo“, rief sie ihm nach. Bereits kurz vor der Telefonkabine stehend, schaute er zurück und bedankte sich bei der Dame. „Wie ist bitte ihre Name?“

      „Marina, ich bin die Chefin des Hotels“, antwortete sie kurz. Dann verschwand er in Kabine drei.

      „Bitte! Ja, sie sind verbunden mit der Zentrale des Präsidiums der Polizei Rügens. Mit wem darf ich sie bitte verbinden?“, klang es freundlich am Ende der anderen Leitung.