„Hoffentlich nimmt sich Traudel genug Zeit für die Kleine“, war ihre Sorge.
Denn Traudel erzählte voller Stolz, was sie inzwischen alles in dem Betrieb erledigen konnte. „Onkel Oskar meint, wenn der Verkauf von neuen Autos so weitergeht, müssten wir bald einen kleinen Autosalon anbauen.“
Karl-Heinz begnügte sich damit, am Telefon zu sagen, dass es ihnen gut gehe. Er war kein Mensch vieler Worte.
Wenn wir aber mit Mama und Papa zusammen in unserem Garten waren, sie wieder zu Erna, der Mutter von Karl-Heinz, verschwand, dann wusste sie hinterher noch viel mehr zu erzählen. Da musste wohl auch Karl-Heinz gesprächiger sein.
Helmut brachte zu uns noch immer keine Freundin mit. Doch wenn wir im Sommer wieder unter unserem Kirschbaum im Schrebergarten zusammensaßen, war er oft dabei. Ständig gab es Neuigkeiten um Berlin, die wir dort diskutierten.
In Ost-Berlin fand eine Militärparade statt. Die Westalliierten protestierten dagegen mit dem Hinweis auf den Status von Berlin. Im März wurde die Europäische Wirtschaftgemeinschaft (EWG) gegründet.
„Das wäre schön, wenn daraus ein vereintes Europa entstehen könnte, das dann zusammen dem Osten gegenüber auftreten würde“, sprach Helmut seine Hoffnung aus.
„Wer hofft von unserer Generation nicht darauf“, stimmte ihm Konrad zu.
„Ich weiß nicht, so viele unterschiedliche Nationen wie in Europa unter einem Hut?“, warf Papa ein und wiegte seinen Kopf voller Bedenken hin und her.
Mama hatte währenddessen in ihrer Tasche gekramt. „Wo habe ich es denn?“, sprach sie vor sich hin. „Ach hier!“, rief sie erleichtert und zog das neueste Foto von Klein-Susi aus der Tasche. „Hier sieh mal, wie sie schon läuft! Dabei ist sie noch nicht einmal ganz ein Jahr alt.“
„Ja, schön“, sagte Konrad, nahm es und gab es weiter.
Ich sah es mir länger an. Wirklich niedlich die Kleine, wie sie unbeholfen in ihrer viel zu großen langen Trägerhose an Traudels Hand balancierte, das Patschhändchen hob, als wollte sie winken, und mit hellwachen Augen unter dem lockigen blonden Haar - so wie es Karl-Heinz hatte - in die Kamera lachte. „Ein süßes Kind“, sagte ich. Und Mama strahlte.
Die Männer achteten nicht auf uns. Sie stritten längst darüber, ob es nun richtig sei, dass die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche erhalten bliebe oder nicht. Mit Protesten in unzähligen Briefen an die Tageszeitungen hatten die Berliner darum gekämpft, dass sie nicht abgerissen wird. Dann waren da noch die verheerenden Waldbrände, die bei der Trockenheit dieses heißen Sommers in den Wäldern von West-Berlin ebenso gewütet hatten wie um Berlin.
Als wir danach in diesem Jahr wieder zu unserer Reise in die Berge aufbrachen und über die Transitstrecke durch die DDR zur Bundesrepublik fuhren, sahen wir links und rechts der Autobahn die verkohlten Waldflächen, die riesengroß wirkten. Es waren die größten Waldbrände seit Kriegsende, die hier gewütet und große Flächen vernichtet hatten.
Helmut, der bei der Baufirma „Zumbold“ arbeitete, die in Berlin nicht unbekannt war, wusste noch viel von der internationalen Bauausstellung in West-Berlin zu berichten, die ihn sehr interessierte. Besonders der Bau einer Kongresshalle mit ihrer gewagten Dachkonstruktion aus Spannbeton, die von den Amerikanern erbaut wurde, fand seine Beachtung. Aber nicht nur seine. Die Form dieses Baus war so ungewohnt, dass die Meinungen darum auseinandergingen.
„Was soll das?“, vertrat Papa seine Ansicht. „Soll das etwa ein Haus sein, Bogen hier und Bogen da, keine richtig gerade Wand?“
Im Volksmund hieß der Bau bald „schwangere Auster“. Doch sie wurde auch eine sehenswerte Attraktion im Tiergarten in West-Berlin. Kein Bus einer Stadtrundfahrt – Sightseeing-Tour hieß das jetzt - versäumte, daran vorbeizufahren.
Als Willy Brandt in diesem Jahr Regierender Bürgermeister wurde, waren wir dabei unseren kleinen Garten wieder für den Winter klarzumachen.
Und als es Weihnachten wurde, gab es eine Neuigkeit aus Hannover von Traudel. Sie erwartete ihr zweites Kind.
Mama schlug die Hände zusammen. „Warum haben sie sich nicht ein bisschen Zeit gelassen?“, klagte sie.
Ich fragte Traudel neckend: „Ein Wunschkind?“
„Ach, Quatsch!“, antwortete sie. „Wie sagte doch Mama einmal, als wir sie fragten, ob wir Wunschkinder seien: ‚Ihr habt euch angemeldet und dann wollten wir euch, basta!' Das passt auch auf uns.“
4. Kapitel - 1958
Im darauf folgenden Sommer brachte Traudel ihr zweites Kind, Klaus, zur Welt. Diesmal hatte sie es nicht so schwer. Alles verlief problemlos, wie sie mir erleichtert berichtete.
„Ein Junge!“, rief Mama hocherfreut. Was war daran nur so besonders beachtenswert? Fast war ich versucht, sie zu fragen, ob ein Mädchen für sie weniger Freude bedeutet hätte. Doch ich ließ es. Früher war das wohl eben so, dass mit dem Jungen der Name erhalten blieb. Stammhalter nannte man ja einen Erstgeborenen.
Doch kaum war Traudel mit dem Kleinen aus der Klinik wieder zu Hause, wurde Mama unruhig. „Wie will sie das mit den beiden Kindern schaffen?“, fragte sie sorgenvoll.
Papa lächelte. „Du hältst es hier doch schon nicht mehr aus. Nun pack' deine Sachen, fahre hin und sieh selber nach, wie es geht!“
Schnell wie der Wind hatte Mama alles zusammengepackt. Als wir sie jedoch abholten, um sie zum Bahnhof zu bringen, umarmte sie Papa zum Abschied mit einem zwar dankbaren, aber sicher auch schuldbewussten Lächeln.
Er drückte sie an sich und sagte: „Bleib aber nicht zu lange, hörst du!“ So leicht wie beim ersten Mal ließ er sie diesmal nicht wegfahren.
„Nein, nein!“, versicherte sie.
Auf dem Bahnhof am Zug ermahnte sie mich noch: „Verpflege ihn gut und pass auf ihn auf!“
Mama war zerrissen. War sie hier, sorgte sie sich um Traudel, und war sie bei Traudel, sorgte sie sich um Papa. Und dann war da auch noch die sorgenvolle Frage: Wie geht es Bruno in Australien wirklich? „Er schreibt mir bestimmt nicht alles“, vermutete sie oft misstrauisch. Ich konnte es ihr nicht ausreden.
Ihre Sorgen bei Traudel fand sie dann bestätigt – so, wie sie es sah! „Stell dir vor, sie nimmt die Kinder einfach mit ins Büro. Wenn Klaus schreit, schiebt sie ihn in einen Abstellraum. Susanne wird in ein Ställchen gesetzt - mit zwei Jahren! Die will doch umherlaufen“, erzählte sie mir empört am Telefon.
Sie war gar nicht einverstanden damit, wie Traudel mit den Kindern umging. Traudel jagte zwischen Wohnhaus und kleinem Auto-Ausstellungsraum mit Büro, der inzwischen angebaut worden war, über den Hof hin und her durch all die vielen dort abgestellten Autos. Auch die Werkstatt wurde bereits fast zu klein für all die Arbeit, die zunehmend in Auftrag gegeben wurde. Drei Gesellen hatte Onkel Oskar zusätzlich eingestellt. Auch Frau Jäger hätte die Arbeit im Büro längst nicht mehr allein bewältigen können.
So versuchte Traudel, ihre Zeit zwischen Haushalt, Kinder und Büro aufzuteilen. Ständig war sie unterwegs, Susanne hatte sie auf dem Arm oder an der Hand und Klaus schob sie im Kinderwagen vor sich her.
„Susanne in ihrem Laufställchen weiß sich zu beschäftigen. Selbst ein altes Buch zu zerreißen, ist für sie interessant. Und all die fremden Leute, die hereinkommen, begrüßt sie mit einem fröhlichen Kiekser, als kämen sie nur ihretwegen. Kaum einer kann sich dem Scharm dieses raffinierten kleinen Lockenkopfes entziehen“, berichtete mir Traudel.
„Wie man es nimmt!“, hörte ich Mama bei ihr im Hintergrund unwillig dazu sagen. Sie war noch immer in Hannover.
Traudel reagierte nicht darauf. „Nur Klaus schreit gern und viel. Der ist eine richtige Nervensäge!“, beklagte sie sich.
„Darum