Kinder erzieht man nicht so nebenbei. Wilma Burk. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilma Burk
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847691723
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Traudel konnte zusehen, wie sie alles schaffte. Traudel wirkte stets gehetzt, alles was sie tat, machte sie in Eile, selbst wenn sie einmal fünf Minuten still saß, hatte man den Eindruck, dass ihre Gedanken in ihrem Kopf umhereilten.

      Onkel Oskar lachte zu alledem. Was Mama gar nicht gefiel. Er fand es „toll!“, wie Traudel sich einarbeitete und mit welcher Begeisterung sie neue Verpflichtungen übernahm. „Ist eine energische, tüchtige Person, die Traudel! Seit sie hier ist, gehen unsere Geschäfte viel besser“, lobte er.

      Mama war nicht erfreut darüber. „Sie sollte lieber mehr Zeit für ihre Kinder haben, statt dem Onkel zu helfen, sein Geld zu verdienen“, meuterte sie mir gegenüber, als wir, von der Reise zurück, darüber sprachen.

      „Aber Mama, das macht sie auch für sich. Bald gehört ihnen die Werkstatt, wenn sich der Onkel zur Ruhe setzt, dann muss sie Bescheid wissen“, versuchte ich zu erklären.

      Doch sie wollte es nicht einsehen. „Trotzdem verstehe ich nicht, warum Karl-Heinz sie so arbeiten lässt. Warum kümmert er sich nicht mehr um die Sachen, die sie im Büro macht? Es würde doch reichen, wenn er Bescheid weiß.“

      „Kennst du deine Tochter Traudel nicht? Meinst du wirklich, er könnte gegen sie etwas ausrichten, wenn sie es sich in den Kopf gesetzt hat?“, erinnerte ich sie.

      „Ach, was! Ich vermute, der ist ganz zufrieden, wenn er sich nur um die Reparaturwerkstatt zu kümmern braucht. Das eigentliche Geschäft erledigt mehr und mehr Traudel. Dabei ist sie viel zu jung dazu. Doch dem Onkel gefällt es offensichtlich, ihr immer mehr Verantwortung zu überlassen. Ich habe Angst, dass sie sich übernimmt und langsam kaputtmacht. Und ihre Kinder? Die werden wohl von allein, so nebenbei groß?“

      *

      Der Herbst hatte noch einige Überraschungen. Den Vorschlag, Verhandlungen zwischen Ost- und West-Berlin aufzunehmen, den der Regierende Bürgermeister Willy Brandt gemacht hatte, wurde von Ost-Berlin, wie erwartet, abgelehnt. Doch nun schlug seinerseits der Ost-Berliner Oberbürgermeister einen Handelsvertrag zwischen beiden Teilen der Stadt vor. Sogar zu Reiseerleichterungen für die West-Berliner zeigte sich die DDR-Führung bereit.

      „Da ist bestimmt ein Pferdefuß dran“, meinte Konrad misstrauisch.

      „Den Brüdern ist nicht zu trauen“, stimmte Helmut zu.

      Ich überlegte noch: Warum eigentlich, warum sollten sie nicht vernünftig werden und einsehen, dass sie verhandeln müssen? Da gab es eine neue sensationelle Nachricht: die Sowjetunion kündigte einseitig den Viermächte-Status von Berlin auf.

      Das begriff ich nicht, darauf hatten sie sich doch bei all ihren schikanösen Handlungen bisher berufen.

      Und nun kam der Pferdefuß hinterher: Die Sowjetunion verlangte zugleich, dass West-Berlin zu einer „entmilitarisierten Freien Stadt“ erklärt werde, sonst trete sie alle ihre Rechte über Berlin an die DDR ab.

      Papa regte sich furchtbar darüber auf. „Die geben nicht auf. Die wollen damit nur West-Berlin vom Westen trennen, damit sie leichter Beute machen können.“

      „Aber, Heinrich, reg dich nicht so auf!“, versuchte Mama ihn zu beschwichtigen. „Das ist nicht das erste Mal, dass sie mit Drohungen versuchen einzuschüchtern.“

      Doch Papa beruhigte sich nicht. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, er griff sich ans Herz. Ich machte mir Sorgen. Schon im Oktober, als es bei einem Konzert des Rock'n-Roll-Sängers Bill Haley im Sportpalast zu Ausschreitungen gekommen war, wobei Menschen verletzt wurden und ein erheblicher Sachschaden entstanden war, hatte sich Papa so ereifert, dass ihm fast die Luft wegblieb. „Diese Jugend von heute! Haben die keine andern Sorgen?“, hatte er geschimpft. „Sie sollten froh sein, dass wir noch in Frieden leben können. Wer weiß, wie lange noch? Ohne die gegenseitige Bedrohung der Großmächte durch die Atombombe wäre schon längst ein Krieg ausgebrochen. Und die jungen Leute glauben, zu ihrem Vergnügen alles mit Füßen treten zu können, was so langsam wieder aufgebaut worden ist.“

      Erschrocken hatten wir ihn angesehen, so kannten wir Papa nicht. Auch da hatte er sich ans Herz gefasst.

      „Was ist nur los?“, fragte ich Mama.

      „Ich weiß es auch nicht! Er regt sich jetzt immer so leicht auf“, antwortete sie voller Sorge.

      Zum Glück verlief auch dieser Versuch der Sowjetunion, West-Berlin als „Freie Stadt“ vom Westen zu lösen, im Sande. Wie wir es erhofften, beharrten die drei Westmächte auf dem Viermächte-Status von Berlin mit vier Stadtkommandanten. Wie bisher fuhren weiter amerikanische Jeeps über den „Checkpoint Charly“, den alliierten Grenzübergang, nach Ost-Berlin zu Kontrollfahrten, und genauso kamen sowjetische Jeeps nach West-Berlin. Zwar waren das jetzt zwei unterschiedliche Städte mit verschiedenen Gesellschaftsformen, aber solange die Westalliierten auf dem Berlin-Status der vier Siegermächte bestanden und die Kündigung der Sowjetunion nicht anerkannten, konnten sie darauf hinweisen, dass Berlin aus vier besetzten Sektoren bestand mit zwei unterschiedlichen Verwaltungen.

      Auch die Bundesregierung lehnte die Forderung nach einer „Freien Stadt“ ab.

      Doch das Ende dieser neuen Pokerrunde um West-Berlin war noch nicht erreicht.

      5. Kapitel - 1959

      Als neuen Trumpf veröffentlichte die Sowjetunion den Entwurf zu einem Friedensvertrag mit beiden deutschen Staaten, wobei wiederum West-Berlin eine entmilitarisierte „Freie Stadt“ werden sollte. Als das nichts half, drohten sie mit einem separaten Friedensvertrag mit der DDR.

      „Mein Gott, nimmt denn dieser Nervenkrieg kein Ende!“, klagte Mama. „Um Papas willen würde ich die Zeitung am liebsten abbestellen. Du glaubst nicht, wie er verbissen beim Lesen dasitzen kann mit hochrotem Kopf. Er braucht nichts zu sagen, ich sehe, wie er sich über jedes Wort aufregt.“

      „Sollte er nicht zum Arzt gehen? Das ist nicht mehr normal bei ihm“, versuchte ich Mama zuzureden.

      „Na, das schlag ihm mal vor! Dahin geht er im Leben nicht. Ich bin froh, wenn er erst seine Rente bekommt. Die Kollegen machen ihn auch verrückt, will mir scheinen.“

      *

      Papa sollte seine Rente nicht mehr erreichen. Er war gerade vierundsechzig Jahre alt, als er sich nach der Arbeit an einem schönen Frühlingstag zum Zeitungslesen in seinen Sessel setzte und für immer einschlief. Plötzlich und unerwartet!

      Mama erzählte hundertmal, wie sie ihm etwas mitteilen wollte und das Zimmer betrat, wie sie nicht glauben konnte, dass er tot sei. Er ist wieder eingeschlafen wie so oft, redete sie sich ein. Aber da kroch in ihr bereits so eine Ahnung hoch, nein, eher ein Wissen, gegen das sie sich nur noch wehrte. Sie versuchte verzweifelt ihn aufzuwecken, sie schüttelte ihn voller Angst, nun doch die Wahrheit erkennend. Und sie beschrieb, wie kalt sie das Gefühl der Einsamkeit in diesem Augenblick überfiel. Mich schauderte jedes Mal, wenn sie davon sprach.

      Es war ein schöner erstmals warmer Frühlingstag, so, wie ihn Papa liebte, als er zu Grabe getragen wurde. Ein linder Wind strich durch das zarte Grün der Bäume und die Sonne schien durch die Zweige auf einen langen Trauerzug. Alle waren gekommen: Verwandte, auch die, die man nur zu Hochzeiten oder Beerdigungen sieht, Freunde, Nachbarn und die erschrockenen Kollegen von Papa, die zu erzählen wussten, wie sehr er sich auf seine Rentenzeit gefreut hatte.

      Gestützt von Karl-Heinz und Konrad folgte Mama gebeugt dem Sarg. So zusammengesunken wirkte sie zwischen beiden noch kleiner als sie ohnehin war. Traudel ging neben mir und schluchzte leise vor sich hin. Sie konnte nicht aufhören zu weinen.

      „Fast vier Jahre habe ich Papa nicht gesehen. Immer konnten wir nicht weg wegen des Betriebes und weil die Kinder noch so klein waren. Und nun?“, hatte sie verzweifelt geklagt, als Karl-Heinz und sie mit Susanne und Klaus nach Berlin gekommen waren. „Warum geht es jetzt, warum so vieles erst, wenn es zu spät ist?“

      „Quäle dich nicht!“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Wenn du nicht Sehnsucht hattest herzukommen, weil du dort glücklich warst, dann war dies Papa