Feindliche Sektoren. Hartmut Höhne. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hartmut Höhne
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847668206
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Füße, Beine. Menschen, nur noch mit Kopf und Rumpf, abgelegt auf einer Bastmatte.

      „Bittä Gäld, bittä.“

      So ähnlich musste es im Mittelalter wohl auch gewesen sein, nur dass Bettler heute als gewerbliche Manövriermasse durch Europa gekarrt wurden. Der globalisierte Bettler on tour.

      Morgens wurden sie mit einem Kleinbus angeliefert, dann bettelten sie eine lange Tagesschicht in der Fußgängerzone und irgendwann am Abend wurden sie wieder eingepackt und in ihr Elendsquartier auf St. Pauli gebracht. Der Löwenanteil ihrer Ausbeute ging an ihre Ausbeuter, logisch. Das waren nun wirklich herzensgute, hilfsbereite Menschen, wie sie in Interviews beteuerten. Sie täten den bettelnden Kollegen nur einen Gefallen, dafür müssten die ihnen aber auch einen Gefallen tun. Schließlich seien sie ja nicht hier, um sich in der norddeutschen Tiefebene in die Sonne zu packen, vielmehr würden sie für den europäischen Binnenmarkt fit gemacht. Bulgariens EU-Beitritt war schließlich vollzogen, insofern handele es sich um eine Art Trainee-Programm für Schwervermittelbare.

      Arno wusste nur sehr wenig über Bulgarien, aber seine eigene ungewisse Zukunft als Künstler stellte ihn immer öfter vor die Frage: Wie wärs mit auswandern? Wie wärs mit Bulgarien? Auf dem Balkan sind sie nett, das war bekannt, wenn auch sonst nicht viel bekannt war. Unbekanntes Territorium, arkadische Landschaften, aus Schafskäse geformt. Warum denn nicht, da könnte man eher überleben als hier, wenn auch nicht als Bettler.

      „Es lebe die Osterweiterung“, rief er dem Beinamputierten zu, der sich tapfer an gebogenen Holzkrücken aufrecht hielt, aber der verstand ihn nicht. Wie jetzt, Trainee-Programm ohne Sprachkurs?

      „Bittä Gäld, bittä.“

      Ja, ja. Arno gab ihm zwanzig Cent und der Bettler gab ihm ein Lächeln im Wert von zwanzig Cent. Ein klares Geschäft.

      Ein Stück weiter natürlich wieder der Tapeziertisch, der mit einem Tuch mit der Aufschrift „Save the children“ verhüllt war. Davor schwärmten junge Leute in einheitlichen T-Shirts mit Klemmbrettern und Unterschriftenlisten aus und belästigten, möglichst flächendeckend, ahnungslose Passanten.

      Arno war allerdings schon mehrfach angequatscht worden und auch heute lautete die rhetorische Eingangsfrage wieder:

      „Hallooooo, ja Sie, mögen Sie Kinder?“

      Die junge Frau, Anfang zwanzig, schwarzes langes Haar, vor zwei Tagen noch blond, mächtiger Nasenring, mit unpassend unschuldigem Lächeln unterwegs. Da lächelte man doch gerne zurück.

      „Kommt drauf an, wie sie zubereitet sind."

      „Was?! Wie sind Sie denn drauf, ich rede von Kindern!“

      Als Arno einfach weiter lächelte, dabei freundlich mit den Augen zwinkerte, drehte sie zu einer Kollegin ab. Sie deutete mit dem Kugelschreiber auf ihn und er winkte freundlich zurück. Alles, was er verstand war, irgendwas mit „pervers“ und „Kinderfresser“.

      Er war zufrieden mit seiner Reaktion, und die vergifteten Blicke waren einfach zum Zunge schnalzen. Sicher merkten sie sich sein Gesicht und ließen ihn künftig in Ruhe. Tatsächlich mochte Arno Kinder nicht besonders, bezeichnete sich selbst sogar als bekennenden Kinderhasser. Die dazu gehörigen Eltern konnte er genauso wenig ertragen. Er fand sie unfähig und dank der pädagogischen Diskussion völlig überfordert. Sie stanken doch vor Angst vor ihrer eigenen Brut.

      Auch hier hatte seine Eingabe an den Petitionsausschuss des Bundestags auf Einführung einer Strafsteuer für Kinderkrieger keine Erfolge gezeitigt. Gegen Ignoranten war eben kein Kraut gewachsen. Immerhin könnte der Staat dafür die Hundesteuer aufgeben, war das denn nichts? Dann könnte Arno sich auch einen mittelgroßen Hund leisten.

      Wenn überhaupt Kinder, dann höchstens als Idee, als idealisierte Vorstellung vom Menschlein als solchem, wie auf den Kitschbildern von Philipp Otto Runge. Na ja, wenn überhaupt. Im echten Leben waren sie lästig, ein richtiger Störfaktor, egoistische, Blut saugende Monster. Arno würde sie mit der Kneifzange nicht anfassen. Traf er unterwegs welche, wechselte er die Straßenseite. Arno wechselte oft die Straßenseite.

      Er fühlte sich erschöpft vom vielen Denken. Anstrengendes Pflaster, dieses Ottensen. Alle wollen irgendwas von mir, dauernd werde ich zu einer Reaktion gezwungen, als wollte man mich zwangsbeglücken, als wollte man mich dazu zwingen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. An ihrem gesellschaftlichen Leben, das mich nicht interessiert, das mir am Allerwertesten vorbei rauscht.

      Na gut, Jacek machte eine Ausnahme.

      Jacek, polnisches Universalgenie.

      Öffnete man seine Ladentür, begrüßte einen eine Stimme aus dem Off mit den Worten: „Willkommen bei Jacek. Bitte treten Sie ein.“ Es handelte sich dabei um eine elektronische Frauenstimme, die es in sich hatte. Sehr erotisch jedenfalls, beinahe schon ein Fall für die Sittenpolizei. Bei der verrucht verrauchten Stimme mit dem slawischen Idiom konnte einem schon fast einer abgehen. Es wurde kolportiert, manche Kunden kämen nur wegen dieser Stimme, aber das würde Jacek nie bestätigen. Dabei hatte Arno schon mit eigenen Augen gesehen, wie ein Mann mittleren Alters mehrmals hintereinander die Tür öffnete und schloss und dabei sehr glücklich lächelte.

      Der Fachmarkt für Künstlerbedarf war in halb Norddeutschland bekannt, denn es gab nichts, was Jacek nicht besorgen konnte. Farben, Lacke, Werkzeuge, Pinsel aus den seltsamsten Tierhaaren und –borsten, die kannte man hierzulande überhaupt nicht. Nachdem er vor fünfzehn Jahren seinen Laden eröffnet hatte, feierte er sofort rekordverdächtige Verkaufserfolge. Er konnte es sich sogar leisten, als eine Art Schutzheiliger und als wahrhafter Freund aller bildenden Künstler aufzutreten. Schon so mancher Maler hatte ihm eine Ausstellung zu verdanken, sogar in renommierten Galerien. In einem Nebenraum seines Geschäfts betrieb Jacek auch eine eigene Galerie. Etwa fünfundzwanzig Bilder hingen dort auf Kommissionsbasis, auch zwei Arbeiten von Arno.

      Auch alles andere konnte Jacek von heute auf morgen beschaffen. Polnische Lebensmittel, Handwerker, heiratswillige Frauen, palettenweise besten Wodka aus den masurischen Wäldern, einfach alles.

      „Tag, Jacek, wo steckst du, alter Kaschube? Zeig dich.“

      Hinter einem hohen Regal krabbelte jemand geräuschvoll eine Holzleiter hinab. Der Meister selbst. Mitte fünfzig, graues Haar, Lech-Walesa-Bart unter der knallroten, großporigen Knubbelnase, gütiges Woytila-Lächeln, tausend Falten um die dunklen Augen herum drapiert, dicker Wollpullover (im August, also ehrlich ...). Insgesamt eine stattliche Erscheinung. Ohne die signalfarbene Nase hätte er es sicher zum Sexualobjekt der Frauen gebracht, allein, die Natur – oder war es doch der Wodka? - hatten es vermasselt. Manchmal schmierte er die Nase mit einer braunen Abtöncreme ein, aber das wirkte noch befremdlicher, wie eine Schuhcremenase.

      „Na was, bin ich doch hier, mein Freund. Ah, Arno schon wieder. Brauchst du schwarze Farbe, stimmt?“

      Verdutzt krauste Arno die hohe Stirn.

      „Äh, ja, stimmt. Woher weißt du das?“

      „Ein guter Verkäufer denkt mit, setzt sich rein in den Kunden.“

      „Versetzt.“

      „Was?“

      „Es heißt, versetzt sich in den Kunden.“

      „Jawoll, Herr Lehrer.“ Jacek salutierte. „Komm mit nebenan, probier den Wodka, neue Ladung aus Polen, echte Leberspülung.“

      Arno ließ sich nicht lange bitten, schließlich war Jacek ein anerkannter Wodka-Experte und ein Gläschen konnte nicht schaden.

      Der Nebenraum ähnelte eigentlich eher einer Nebenhöhle, war zugleich Lagerraum, Büro, Schlafstelle, Pornokino, Küche, Wettbüro und Wodka-Bar. Hinter einer Mauer aus Pappkartons lag eine Matratze auf dem Teppichboden, darauf ein oranges Knäuel, zweifellos eine Tagesdecke.

      An einer freien Wand lehnte ein gut gefülltes und sortiertes Buchregal mit Bildbänden, Ausstellungskatalogen, Werke zur Kunstgeschichte und –theorie, diverse Lexika.

      Arno wusste, dass Jaceks umfangreicher Kunstkanon nicht nur aus dekorativen