Bei seinem Stapel Ware angekommen, legte er prüfend die Hand darauf. Die Ballen waren fast trocken. Vielleicht war doch nicht alles verloren. Vielleicht ließ sich die Ware ja doch noch zu einem guten Preis verkaufen. Feine Stoffe für Dramilien ...
"Achtung!", brüllte der Steuermann plötzlich los.
Llauk schaute sich um. Es war nichts zu sehen. Was der Mann wohl hatte?
Traumversunken zupfte Llauk gerade an der Verspannung der Stoffballen herum, als die erste Böe das überladene Schiff traf. Ein leichtes Kräuseln des Wassers hatte dem Steuermann im letzten Moment verraten, was auf die `Große Geliebte' zukam, er hatte es aber doch nicht mehr geschafft, das Schiff aus dem Wind zu nehmen.
Krachend schlug der Windstoß in die Segel des Zweimasters, der, viel zu tief im Wasser liegend, stark zur Seite krängte.
Llauk verlor den Boden unter den Füßen. Das Deck war plötzlich zu einer schiefen Ebene geworden, auf der seine Füße keinen Halt mehr fanden. Hilflos hing er an der Verzurrung seiner Stoffballen und sah entsetzt, wie das Wasser auf dem schrägstehenden Deck unter ihm immer höher stieg.
Stärker und immer stärker wurde der gewaltige Druck des Windes. Die starken Holzmasten vibrierten in ihren Verkeilungen und bogen sich bis fast auf das Wasser hinab.
Llauk schrie ununterbrochen. Krampfhaft hielt er sich an dem rettenden Tau fest, während das Deck sich annähernd im Rechten Winkel zur Wasserfläche befand und die reißende See ihn bis zum Brustkorb erfaßte. Undeutlich sah er, wie sich die Männer der Besatzung ebenfalls festklammerten, wo immer sie sich gerade aufgehalten hatten.
"In die Masten!", brüllte von irgendwoher der Kapitän. "Wenn die Segel voll Wasser schlagen, sind wir verloren!"
Llauk traute seinen Augen nicht. Tatsächlich setzten sich einige der Männer in Bewegung und hangelten sich Hand über Hand in die Takelage empor. Bevor sie jedoch auch nur ein einziges Segel hatten reffen können, ließ der Druck der Böe ein wenig nach. Langsam, unendlich langsam, richtete die `Große Geliebte' sich wieder auf.
Mit zitternden Gliedern ließ Llauk sich auf das Deck gleiten. Mit einem kleinen Schrei rutschte er sofort auf die Reling zu, die mit ihrem unteren Teil noch unter Wasser lag.
Nun hatten die Männer in den Masten die ersten Segel eingeholt. Immer mehr Segelflüge ließ der Kapitän reffen, bis das Schiff vollständig ruhig und gerade im Wasser lag.
Der Wind, der vor der Böe gleichmäßig und beständig gewesen war, schlief nun vollständig ein. Mit hochgezogenen Segeln dümpelte die `Große Geliebte' auf der Stelle.
Am Horizont war ein schwarzer Streifen erschienen, der höher und höher stieg. Bald schon waren die ersten Blitze zu erkennen, die daraus hervor in die See zuckten.
Der Kapitän rief die Männer vor dem Achterdeck zusammen. "In weniger als zwölf Sonnenhöhen wird ein Sturm uns ergreifen, wie ihn wohl noch keiner von uns erlebt hat. Öffnet jetzt eine neue Proviantkiste und nehmt Euch das Beste daraus, aber trinkt nicht zu viel Wein. Wir brauchen jede Hand und all unsere Kraft!"
Schweigend gingen die Leute ans Werk, doch den meisten mochte das beste Fleisch und der köstlichste Käse nicht so recht munden. Alle Männer auf dem wie tot daliegenden Schiff schauten immer wieder besorgt auf die herannahende Wetterfront.
Unter der schwarzen Wolkendecke zeigte sich nun, neu und beängstigend, eine weiße Linie, die sich mit gleicher Geschwindigkeit vorwärts schob. "Die See kocht", bemerkte einer der Männer halblaut.
"Schließt jetzt die Kiste und verstaut sie gut", bestimmte der Bootsmann. Mancher der Männer nahm schnell noch einen letzten Schluck Wein, dann wurde die Kiste fest verkeilt und obendrein noch mit Tauen gesichert.
"Geht auf eure Posten!"
Schaudernd sah Llauk, wie einige der Männer in die Masten kletterten und sich dort, an ihren Einsatzorten, mit starken Leinen sicherten. Andere nahmen ihre Position auf Deck ein und banden sich ebenfalls an das Schiff. Kapitän und Bootsmann hatten ihre Sicherungsleinen, genau wie der Steuermann, an dem schweren Ruderbalken befestigt.
Mit plötzlichem Entsetzen bemerkte Llauk, dass er die einzige ungesicherte Person auf dem ganzen Schiff war. Hastig suchte er sich ein freies Tauende, das am Hauptmast hing und band es sich um die Körpermitte.
Es wurde zusehends dunkler, obwohl die Tagteilung, der Höchststand der Sonne, gerade erst vorüber war. Glatt wie Öl lag die See unter dem Schiff.
Plötzlich wurden auf breiter Front kleine, spitze Wellen aus der glatten Wasserfläche emorgerissen. Llauk atmete scharf ein, als er bemerkte, wie die Böe auf das Schiff zujagte. Der Bootsmann stieß einen langgezogenen Warnruf aus, und Sekunden später war die `Große Geliebte' von der Wetterfront überrollt worden, wie ein Grashalm von einer Steinernen Walze.
Es war vollständig gleichgültig, wieviele Männer auf dem Schiff waren, wo sie ihre Posten hatten und ob sie etwas von ihrem Handwerk verstanden. Es war sogar gleichgültig, ob sich überhaupt jemand auf Deck befand. Die tosenden Elemente nahmen das Schiff vollständig unter ihren Zwang. Luft und Wasser waren eins geworden. Die `Große Geliebte' erkletterte Berge aus Wasser und Gischt, ritt auf den Kämmen rasender Wogen und kippte ab in wirbelnde Täler. Tobender Sturm und brechende Wellen zerrten an ihren Masten. Sie wurde vom Meer ausgespien und wieder eingesogen. Sie durchbrach gischtende Wogen. Sie wurde emporgehoben in schwindelnde Höhe, und ihre Beplankung krachte, wenn sie hart auf den Wasserspiegel traf. Sie wurde von gigantischen Wogen fast zärtlich vor dem Sturm beschützt und drehte sich in wirbelndem Tanz, wenn die Böen sie erfaßten.
Llauk hatte schon lange die Übersicht verloren. Halb ohnmächtig hing er am bebenden Hauptmast und hatte endgültig mit dem Leben abgeschlossen.
Plötzlich sah er eine Bewegung aus den Augenwinkeln, die weder von Wasser, noch von Wind herrührten. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er der fliegenden Gischt zu trotzen und zu erkennen, wer sich da Hand über Hand auf das Vorschiff zuarbeitete.
Schließlich konnte Llauk den Bootsmann erkennen, der, eine kurze Axt aus Bronze in seinem Gürtel, verzweifelt versuchte, den Halt nicht zu verlieren. "Das Vorschiff ist zu schwer!", brüllte er überflüssigerweise Llauk zu. "Die nassen Ballen ziehen uns runter! - Ich muß die Ladung kappen!"
"Nein", stöhnte Llauk auf. "Nicht die Stoffe!" Plötzlich erwachten die Kräfte eines Wahnsinnigen in ihm. In wildem Zorn schoß er von seinem Platz auf den Bootsmann zu, aber der war schon aus seiner Reichweite.
Mit fliegenden Fingern versuchte Llauk, den Knoten seiner Sicherungsleine zu lösen. Nur ein einziger Gedanke beherrschte ihn: Der Bootsmann durfte seine Stoffballen nicht erreichen! Lieber sollte das ganze Schiff zugrunde gehen, als dass die Verzurrung gekappt wurde.
Frei und ungeschützt saß Llauk auf dem Deck und hatte den Knoten fast gelöst, als ein schwerer Brecher über Bord kam und ihn mit aller Gewalt gegen den Mast schleuderte.
Als Llauk wieder zu sich kam, hatte der Bootsmann die Ballen fast erreicht. Benommen, unfähig sich zu bewegen, sah der Stoffmacher zu, wie der muskulöse Mann alle Vorsicht fahren ließ und die Axt mit beiden Händen über den Kopf schwang.
"Nein!", brüllte Llauk aus tiefster Seele. "Nein!"
Voller Entsetzen verfolgte Llauk die halbkreisförmige Bahn der Axt - wie sie das Tau durchschlug - wie sie sich tief in das nasse Holz grub. Wie der Stapel Tuchballen - sein Stapel Tuchballen - ins Rutschen kam und mit unglaublicher Schnelligkeit ins Meer glitt. "Nein!" Krampfhaft streckte er beide Hände nach seinen Schätzen aus und wäre wohl dumm genug gewesen, sich daran zu klammern, wenn er sie hätte erreichen können. Dann verlor er die Besinnung.
Llauk erwachte noch zweimal während des Sturms und wunderte sich jedes Mal, dass er noch lebte. Er spürte keine Todesangst mehr, nur eine alles verschlingende Bitterkeit hatte sich in