Nach einer Weile entschlossen sie sich, trotz der Aussicht auf heftigen Ärger, erst einmal zur Hohepriesterin zu reiten und ihr zu beichten, was vorgefallen war, vielleicht hatte sie ja eine Idee. Denn, wenn sie ehrlich waren, wollten sie beide nicht noch einmal in den eisigen Schlund, so lieb sie Riala auch hatten.
Namatani stand neben den Koppeln und warf einen besorgten Blick in die Runde. Ihr hellblauer Umhang und ihr hüftlanges, pinkfarbenes Haar wiegten sich sanft im Wind. Der Nebel hatte sich aufgelöst. Aber trotz der guten Sicht erblickte sie nicht das, was sie sich erhoffte. Wie so oft hielt sie Ausschau nach Riala. Da auch Jolanis und Kesimo unterwegs waren, hoffte sie, dass die Jungs auf das übermütige Mädchen aufpassen würden. Aber ihr ungutes Gefühl sagte ihr das Gegenteil.
In diesem Augenblick entdeckte sie in weiter Ferne zwei Reiter. Auf ihrer Stirn bildete sich eine tiefe Falte. Warum kommen nur zwei zurück?, fragte sie sich noch mehr beunruhigt und ging ihnen gerade so weit entgegen, dass sie die kleinen Sonnenkinder noch im Blick hatte.
Je näher Namatani den Reitern kam, desto größer wurde ihre Unruhe. Es sind die Jungs!, stellte sie erschrocken fest und sandte Jolanis nur diese eine Frage: Wo ist Riala?
Die Jungs erblickten die Hohepriesterin und warfen sich einen besorgten Blick zu.
Oh je, jetzt geht’s gleich los, meinte Kesimo. Jolanis nickte schweigend. Im Gegensatz zu vorhin wurde es ihnen siedend heiß. Und er war auch noch Schuld …
Wahrheitsgetreu antwortete Jolanis, dass sie es selbst nicht so genau wussten.
Die Priesterin wartete nun mit ernster Miene, bis sie endlich vor ihr standen und sie in ihre Augen blicken konnte. So blieb ihr keine Lüge verborgen.
Kaum waren die Jungs bei ihr, sprangen sie von den Reittieren und begrüßten die Hüterin, indem sie ihre Handinnenflächen küssten.
Was ist geschehen? Ich sehe euch an, dass etwas nicht in Ordnung ist. Kesimo, wo ist dein Gewand?
Der Junge senkte beschämt den Blick und schaute schweigend auf seine nackten Füße.
Namatani wandte sich streng an den Älteren: Jolanis schau mir in die Augen und antworte! Sofort!
Der Junge blickte in das schöne Gesicht Namatanis, das nun ernst und besorgt aussah und lange nicht so strahlte wie sonst.
Wir haben ein Wettrennen gemacht …, fing Jolanis zögerlich an zu berichten und kaute auf seiner Unterlippe.
Wer ihr? Du und Kesimo?, fiel sie ihm erstaunt in den Gedanken. Jolanis schüttelte den Kopf. Ungeduldig mischte sich Kesimo ein: Jolanis, wir haben nicht so viel Zeit zum Plaudern. Erzähle rasch, was geschehen ist!
Du hast recht, Kesimo. Der Nebel hat die grauen Wolken verschleiert, erklärte Jolanis betrübt. Und wir waren so im Rennfieber, dass wir gar nichts mitbekamen und plötzlich waren wir drin, im eisigen Strudel …
Sein Herz brannte vor Kummer und Schuld. Würde er Riala je wiedersehen?
Namatani wich auch noch die letzte Farbe aus ihrem blassen Gesicht. Nein! Wie konntet ihr nur so unvorsichtig sein? Habe ich euch nicht täglich vor den grauen Wolken gewarnt?! Und das nicht ohne Grund, sie sind lebensgefährlich! Jolanis, du solltest in deinem Alter verantwortungsbewusster handeln. Ich würde dir am liebsten den blanken Hintern versohlen.
Jolanis errötete bis an die Haarwurzeln. Er fühlte sich noch mieser. Es tut mir unglaublich leid, ehrlich.
Tief sog sie den Atem ein und schwieg einige Zeit, um sich zu beruhigen und klare Gedanken zu fassen.
Dann richtete sie ihre Gedanken an die nervösen Jungs:
Es ist wie damals, als plötzlich die weißen Wölfe verschwanden. Und danach sind immer wieder Kinder und Fohlen verschwunden und nie mehr aufgetaucht. Niemals hört ihr?! Zu keiner Zeit, seit ich lebe, ist jemand lebend zurückgekehrt und konnte Bericht erstatten. Wir hatten zwar eine Vermutung, aber nie Zeugen, wo sie geblieben sind. Aber ich war mir stets ganz sicher, dass ER es war. Was sich ja nun leider auch bestätigt hat.
Die Priesterin sah mit leerem Blick in die Ferne. Sollte sie wieder eines ihrer Schützlinge opfern müssen? Und dann noch eine Mal-Trägerin, die eine höhere Bestimmung hatte, das würde der Schlossherrin ganz und gar nicht gefallen.
Die Jungs schauten sich entsetzt an. Ihre geliebte Riala sollte für immer verloren sein, daran wollten sie nicht glauben. Schon der Gedanke daran ließ sie erschaudern.
Nein, das darf nicht wahr sein. Kesimo und ich werden sie retten! Irgendwie werden wir es schon schaffen. Kesimo hat auch mich gerettet, stimmt's?, ereiferte sich Jolanis.
Ja, gemeinsam wird es uns gelingen. Wir sind stark und mutig! Aber ich befürchte, wir haben nicht mehr viel Zeit, gab Kesimo zu bedenken.
Zeit spielt nun keine Rolle mehr. Laut der Überlieferung steht die Zeit am Ende des Strudels still, sie ist eingefroren. Nichts geschieht mehr, außer der Graue Urus wünscht es. Seit die Wölfe verschwunden sind, fällt es ihm immer leichter, Opfer in seinen eisigen Gierschlund zu locken. Nicht ohne Grund habe ich euch stets eindringlich vor den grauen Wolken gewarnt und streng verboten, in deren Nähe zu reiten … Nur wenige kennen sein wahres Gesicht. Er ist ein hinterhältiges, grausames Monster, das uns alle im Sonnenreich nach und nach vernichten wird. Und nun hat er unser wertvollstes Sonnenkind gefangen, das war ein großer Fehler. Er hat uns lange genug Schaden zugefügt. Es ist an der Zeit, dass wir uns endlich wehren!
Vor Kesimos inneres Auge drang das grausige Bild des Eismonsters. Mit einem unguten Gefühl nickte er der Priesterin zustimmend zu. Sie hatte zweifelsfrei recht, aber leicht würde der Kampf gegen so einen mächtigen Gegner sicher nicht werden.
Am Abend saßen Jolanis, Kesimo und die Hohepriesterin in deren geräumigen Zelt zusammen. Hier herrschte absolute Sauberkeit. Die geschmackvolle, helle Wolkeneinrichtung war farblich aufeinander abgestimmt und es duftete himmlisch. Die Jungs lauschten mit gemischten Gefühlen Namatanis Plan, wie sie Riala befreien konnten. Ihre Einhörner hielten sich in unmittelbarer Nähe auf. Sie ließen ihre Verbundenen nur im äußersten Notfall aus den Augen.
Namatani wusste, dass sie keine andere Wahl hatte, als die Jungs loszuschicken, wenn sie das Mädchen jemals wiedersehen wollten. Kesimos unerschütterlicher Mut gepaart mit Jolanis‘ Kraft, ihrer beider Intelligenz und die Liebe zu Riala, den Kindern und Pferden, würde ihnen im Kampf gegen Urus helfen. Denn die reine Liebe war eine gewaltige Waffe gegen das herzlose Eismonster.
Nervös kneteten die Jungs die Enden ihrer Gürtel. In wenigen Stunden, wenn sich die Helligkeit ankündigte, sollte das unglaubliche Abenteuer schon beginnen.
Obwohl ihnen nicht ganz geheuer dabei war, wussten sie, dass sie das einzig Richtige taten. Riala musste gerettet und Urus vernichtet werden, das stand fest, sonst wären sie bald alle verloren. Das ganze Sonnenreich lag nun in ihrer Hand. Je länger sie darüber nachdachten, desto unlösbarer erschien ihnen diese schwere Aufgabe. Die Last erdrückte sie fast.
Nachdem alles Voraussehbare besprochen war, und das reichte gerade bis ins Nachbarreich, verließen die beiden mit einem mulmigen Gefühl Namatanis Zelt und gingen in das Gemeinschaftszelt, um ihre Sachen zu richten.
Danach versuchten sie, trotz der Sorge und Aufregung, noch ein wenig zu schlafen.
Jolanis, Kesimo, ich wünsche euch bei eurer Mission alles Glück des Wolkenreichs und, dass ihr bald wieder unversehrt zurückkommt. Ich bin außerordentlich stolz auf euch. Kesimo, nimm dieses goldene Kurzschwert und du Jolanis, diese goldenen Pfeile und den Bogen. Sie sind gesegnet und werden euch beschützen. Legt sie niemals ab! Wioné, die Schlossherrin, deren schlanker, hochgewachsener Körper ein fließendes, gelbes Gewand sanft umschmeichelte, stand mit ernster Miene vor den Jungs und hielt ihnen die Waffen hin. Ihr knielanges, türkises Haar,