Eike Ruckenbrod
Das Wolkenreich
Riala in eisiger Gefahr
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Riala
Riala ging ihrer größten Leidenschaft nach und galoppierte auf dem blanken Rücken ihrer Einhornstute über unendliche Wolkenteppiche. Mejus lange, wellige Mähne streichelte sanft über Rialas Hände, die seitlich am Hals des stattlichen Tieres lagen. Unter dem Schopf der Stute lugte ein daumenlanges, goldenes Horn hervor.
Voller Übermut trieb Riala Meju immer schneller an. Die Stute senkte den Kopf und galoppierte mit weit ausholenden, kräftigen Sprüngen in Windeseile voran.
Als der strenge Gegenwind Riala Tränen in die Augen trieb und ihre langen Haare wild umher wirbelte, breitete sie genüsslich die Arme aus, schloss die Augen und lachte glockenhell. Sie liebte das unbändige Gefühl, frei zu sein. Nachdem sie dieses reichlich ausgekostet hatte, gönnte sie ihrer Stute eine Verschnaufpause und entspannte sich. Sogleich wurde das Tier langsamer und fiel in den Trab. Goldenes, warmes Licht spiegelte sich im verschwitzten Fell der weißen Stute. Das Mädchen genoss die absolute Stille, die es umgab. Wie unbeschwert hätte der Ausritt sein können, wenn nicht der eindringliche Verweis der Hohepriesterin Rialas Gedanken überlagerte:
Du musst dich von den grauen Wolkenbergen fernhalten! Es ist äußerst gefährlich dort. Lebensgefährlich! Wenn ich dich noch einmal in deren Nähe erwische, darfst du nur noch in den Koppeln reiten.
Eigentlich ließ die Hohepriesterin ihren Schützlingen ziemlich viel durchgehen, aber in diesem Fall war sie unerbittlich.
Über Rialas fein geschnittenes Gesicht, mit den glitzernden Augen und den schön geschwungenen Lippen, legte sich ein dunkler Schatten.
In den Koppeln reiten, wie schrecklich, dort ritten nur die frisch Verbundenen, deren Fohlen noch schwarz und die Hörner kaum sichtbar waren. Riala wurde schon bei dem Gedanken daran übel. Gerade sie, die so freiheitsliebend war.
An jedem Rotmond, wenn die umliegenden Wolken wie rote Zuckerwatte aussahen, wurden die starken Einhornfohlen geboren und mit den Sonnenkindern zusammengebracht, die die Prüfung der Hohepriesterin bestanden hatten. Diese Geschicklichkeits- und Gedächtnisprüfung war niemals gleich und es war immer ein aufregendes Fest, an dem auch die Schlossherrin Wioné teilnahm. Nach erfolgreicher Prüfung durften sich die Fohlen ihr Sonnenkind aussuchen und waren danach mit ihm unzertrennlich für dieses Leben verbunden. Jedes Kind im Sonnenreich fieberte auf diesen besonderen Tag, der es schneller, freier und stärker machte, und bereitete sich gewissenhaft auf die Prüfung vor.
Energisch strich sich Riala eine Strähne ihres zartrosa schimmernden Haares aus der Stirn. Eine härtere Strafe konnte sie sich nicht vorstellen. Seit Meju geboren wurde, waren sie und die Stute unzertrennlich und, so oft es möglich war, auf den weitläufigen Wolkenteppichen unterwegs bis hin zur Grenze des Nebelreichs oder in entgegengesetzter Richtung zur Windreichsgrenze. Im Regen- und Blitz- und Donnerreich war Riala noch nie. Aber sie hatte in Wolkenreichskunde schon viel darüber gelernt.
Dadurch, dass das sensible Einhorn Rialas Gedanken und Gefühle so gut verstand, wie kein anderer, war es ihre beste Freundin geworden. An manchen Dunkelheiten schlich sich Riala aus dem Gemeinschaftszelt und schlief sogar auf dem breiten Rücken des sanften Tieres.
Meju war eine auffallend große Einhornstute, deren seidiges Fell über feste Muskeln glänzte. Ihren ausdrucksvollen Samtaugen entging nicht die kleinste Bewegung. Die pfeilschnelle und unerschrockene Stute zählte zurzeit zum ranghöchsten Tier im Sonnenreich. Riala war sehr stolz auf sie, denn je ranghöher das Einhorn war, umso mehr Ansehen genoss auch der Reiter. Regelmäßig fanden spielerisch Wettläufe statt, um die Rangfolge neu festzulegen oder zu bestätigen.
Das Mädchen entspannte sich abermals und augenblicklich verlangsamte das Tier sein Tempo in den Schritt. Gedankenverloren streichelte es den glatten Einhornhals. Was die Hohepriesterin nur hat? Immer hat sie was zu meckern. Und immer nur mit mir …
Meju schnaubte tröstend. Riala blickte, wie schon oft zuvor, forschend in Richtung der grauen Wolkenberge, die von Weitem absolut harmlos aussahen. Sie befanden sich im Schattengebiet des Sonnenreichs. Häufig war sie schon in deren Richtung geritten und hatte nichts Gefährliches festgestellt. Nur eines war ihr aufgefallen, dass sie kalte Hände und Füße bekam, je näher sie heranritt. Aber das konnte ja daher kommen, dass dort fast keine Sonne schien. Es musste doch einen triftigen Grund geben, dass es strengstens verboten war, dorthin zu reiten.
Riala wollte zu gerne wissen, was sich dort verbarg. Verbotenes war so unglaublich reizvoll.
Nun saugte sich ihr Blick gebannt im Grau der Wolken fest, die mit jedem Rotmond massiger geworden waren. Riala wollte rasch den Blick abwenden, aber es gelang ihr nicht. Sie versuchte zu blinzeln, aber ihre Lider gehorchten nicht. Sie war gezwungen, starr geradeaus zu blicken. Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus und ließ Übelkeit aufsteigen. Ihre Augen brannten schon, als sie ein leises Säuseln vernahm. Riala kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Ihr Puls beschleunigte sich.
Riala, komm zu uns, komm … traue dich! Eine ganz besondere Überraschung wartet auf dich …, drang eine singende Stimme, sanft aber bestimmt, in ihre Gedanken.
Ein eiskalter Stachel bohrte sich in ihre hohe Stirn. Erschrocken hielt sie die rechte Hand vor die Augen. Diese Hand zeichnete ein rotes Mal in Form eines Wolfskopfes. Panisch wendete sie die Stute ab.
Schnell weg! Ohne sich noch einmal umzudrehen, galoppierte sie rasend schnell zum Schloss zurück, das in goldenem Licht erstrahlte. Wie ein verträumtes Märchenschloss schwebte es mit drei schmalen Aussichtstürmen und dem runden Torbogen geborgen auf weichen Wolkenteppichen.
Hier wohnte die edle Schlossherrin Wioné, die Herrscherin über das Sonnenreich. Seitlich davon befanden sich die geräumigen Gemeinschaftszelte der Kinder und in einiger Entfernung das mit Wolkenflocken verzierte Zelt von Namatani und, in noch weiterem Abstand, die Koppeln der jungen Einhörner.
Langsam normalisierte sich Rialas Puls wieder und sie wandte sich atemlos an Meju: Ich glaube, heute bin ich zu weit gegangen. Wie unheimlich diese Kälte … und diese säuselnde Stimme … Riala schüttelte