Nein, sie würde nicht aufgeben! Abermals trieb sie die Stute an, deren weit geöffnete Nüstern in kurzen Abständen hart nach Luft pumpten. Unter Mejus seidigem Fell zeichneten sich deutlich die Adern ab. Schaumkrönchen bildeten sich allmählich auf dem Pferdekörper, die ein paar Pferdelängen weiter auf den Wolkenteppich fielen.
Riala legte sich so flach wie möglich auf den Hals des Tieres und schloss die brennenden Augen.
Niemals werde ich verlieren … niemals, das wird Meju nicht zulassen … ich darf nicht …
Plötzlich wirbelte die Stute um ihre eigene Achse und flog durch die Luft wie von einem mächtigen Saugrohr angezogen. Wild nach Halt suchend, ruderte das starke Tier mit den Beinen. Riala stockte der Atem. Fest krallte sie ihre steifen Finger in Mejus Mähne. Sie durfte auf keinen Fall herunterfallen. Die Luft war inzwischen bitterkalt. Riala warf einen panischen Blick in die Runde und sah zu ihrem Entsetzen rundherum nur graue Wolken, die ihr schreckliche Angst einflößten. Sie befand sich in einem trichterförmigen Wolkenschlauch, der steil abfiel.
O Gott, nein, wir sind in den grauen Wolken gelandet. Und von Jolanis ist weit und breit keine Spur. Hysterisch schrie sie Gedanken nach dem Jungen und nach Hilfe. Angespannt horchte sie in sich hinein. Ihr Herz raste und ihr Körper bebte. Aber außer dem Wind, der um ihre Ohren pfiff, nahm sie keinen Ton wahr. Ein eiserner Ring legte sich um ihre Brust, der ihr langsam die Luft abschnürte. Tränen kullerten hemmungslos aus ihren Augen und gefroren rasch zu kleinen Perlen.
Die Stute kämpfte vergeblich gegen den Sog an. Spiralförmig wirbelten sie immer weiter und weiter in den eisigen Strudel hinein. Der Schweiß auf Mejus Fell gefror zu einem harten Panzer. Verzweifelt, unter qualvollen Schmerzen, betete Riala und gab alle möglichen Versprechen ab. Aber es half nichts, die Kälte nistete sich unbarmherzig in ihrem zarten Körper ein und brachte ihn nach und nach zum Erstarren. Auf ihrer Haut bildete sich eine dünne Eisschicht, ihre Lippen färbten sich blau und ihr Haar stand starr gefroren zur Seite. In Todesangst bat und bettelte Riala so lange, um Wärme und Rettung, bis sie ohnmächtig auf den Hals des völlig entkräfteten Einhornes sank.
Jolanis spürte, wie der Hengst von einem gewaltigen Sog angezogen wurde. Was ist denn nun los? Riala, nein, nicht weiter reiten … nicht weiter!
Das Mädchen nahm seine dringlichen Gedanken schon nicht mehr wahr. Es war vom eisigen Strudel verschluckt worden.
Kah spürte die Anspannung seines Herrn und stemmte sich gegen den Sog. Jolanis versuchte den Hengst zu wenden. Aber so arg er sich bemühte, das Einhorn konnte nicht mehr umkehren. Schon spürte der Junge, wie die eisige Kälte schmerzhaft von seinem Körper Besitz nahm.
Kah! Kah rette uns! Du musst alles geben! Der Hengst bäumte sich auf. Seine erkalteten Muskeln zitterten.
Da der Sog Jolanis fast vom Einhornrücken riss, wickelte er Kahs Mähne um seine Unterarme. Streng dich an, du schaffst es!, trieb er den Hengst hart an.
Stück für Stück kamen sie voran, aber die Kälte war ihr größter Gegner, denn sie nahm ihnen zuerst die Kraft und schließlich das Bewusstsein.
Kesimo beobachtete, wie Jolanis mit der wunderschönen Riala davonritt, und verfolgte die beiden mit großem Abstand.
Der Nebel machte es ihm leicht, unbemerkt zu bleiben. Außerdem hatten die zwei nur ihr Rennen im Sinn. Er wollte ja nicht neugierig sein, aber vielleicht würde es ja ganz interessant werden. Er wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Jolanis endlich gewann. Und er selbst könnte dann Riala ein wenig über ihren Schmerz hinweg trösten … Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf seine Lippen.
Und nun stand Kesimo da und beobachtete, wie die zwei Wettstreiter in einem wirren Strudel von grauen Wolken verschwanden.
In diesem Augenblick verwandelte sich der Strudel zu einem riesigen Maul mit gewaltigen, spitzen Zähnen. Die Wolken darum herum wurden zu messerscharfen Krallen. Einen winzigen Augenblick leuchteten glutrote Augen zwischen den schwarzen Wolken auf. Kesimo durchfuhr ein eisiger Schrecken. Mutter meiner Seele, was geschieht hier? Ich muss ihnen helfen! Aber wie? Schnell, schnell, was soll ich nur tun?
Rasch trieb er Ares, seinen jungen Einhornhengst, todesmutig an und preschte in Richtung des Strudels, der wieder ganz harmlos aussah.
Bald kroch auch ihm die Kälte unter die Haut. Der Sog zerrte unbarmherzig an Haaren und Kleidern. Ares blieb abrupt stehen und ging keinen Schritt mehr weiter.
Hey, was ist los? Wir müssen sie retten!
Aber das Tier stemmte, mit angstgeweiteten Augen, fest die Hufe in die Wolken. Kesimo blickte sich panisch um. Nichts, das ihm helfen konnte, war in erreichbarer Nähe. Er riss sich sein langes Gewand vom Leib und teilte es, mithilfe seiner Zähne, blitzschnell in Streifen. Rasch knotete er diese fest zusammen und band ein Ende an Ares fest.
Du bleibst hier stehen, und wenn ich es befehle, dann ziehst du mich wieder raus!
Der Hengst wieherte. Kesimo schnürte das andere Ende um seine schlanke Taille und sprang kopfüber in den Strudel. Augenblicklich drang die Kälte durch seine nackte Haut.
Er klapperte schon mit den Zähnen, als er endlich Jolanis erblickte. Der Schreck durchzuckte ihn, als er diesen vornübergebeugt, bewegungslos auf Kah kauern sah. Der Schimmel, der sich mit letzter Kraft gegen den Sog wehrte, schnaubte. Kesimo blickte sich angestrengt nach Riala um, konnte sie aber nirgends mehr entdecken. Schließlich versuchte er, zu Kah zu gelangen, verfehlte ihn aber ein ums andere Mal. Schon verließen auch ihn seine Kräfte. Der Hengst beobachtete den Jungen und arbeitete sich in seine Richtung vor. Endlich gelang es Kesimo, Kahs lange Mähne zu ergreifen und zog sich mit letzter Kraft auf das Tier. Mit steifen, zittrigen Fingern band er Jolanis an sich fest und klammerte seine Beine um Kah.
Ares, mein geliebter Freund nun zeige, dass du der Beste bist und zieh! Zieh! Und du, Kah, hilf ihm, drücke dich gegen den Sog! Rettet uns, ihr edlen Hengste vom Sonnenreich!
Ares wieherte laut, als er die flehenden Gedanken seines Verbundenen vernahm. Kah stimmte ein und kämpfte mit neuer Energie. Je näher sie der Öffnung kamen, desto schwächer wurde die Sogwirkung. Kesimo feuerte abermals die Tiere an und schließlich gelangten sie mit Mühe und Not aus den Fängen des Eisstrudels.
Ihr habt es geschafft! Ihr seid die Besten. Ich liebe euch, freute sich der erschöpfte Junge, rutschte mit weichen Knien von Kahs Rücken und drückte Ares einen kalten Kuss auf die zitternden Nüstern. Der graue Hengst tropfte vom Schweiß, obwohl es immer noch eisig war. Sorgenvoll betrachtete Kesimo Jolanis' bläuliches Gesicht. Rasch führte er Kah zu einer Wolke, die hell und warm erleuchtet, in einiger Entfernung schwebte. Vorsichtig zog er den Jungen vom Einhorn und hievte ihn auf die Sonnenwolke, die seinen ausgekühlten Körper augenblicklich warm umhüllte. Kesimo beobachtete ihn angespannt. Zögerlich öffnete Jolanis die Lider und sah direkt in Kesimos breites Grinsen.
Na, mein Freund, alles klar?, erkundigte sich der Junge erleichtert.
Kesimo, ich könnte dich küssen, du hast mich gerettet! Jolanis streckte seine Arme aus.
Spar dir mal lieber die Energie, um Ria zu retten, wehrte Kesimo weich ab.
Jolanis setzte sich erschrocken auf und warf einen Blick in die Runde. In einiger Entfernung erblickte er die dunkelgrauen Ränder es Strudels. Ein heftiger Schmerz wütete in seiner Brust und sein Herz krampfte sich zusammen. Ist sie etwa noch da drin?, fragte er bange, obwohl er die Antwort schon kannte. Ein tiefes Schuldgefühl ließ ihm übel werden.
Der Jüngere nickte ernst. Ja, leider konnte ich ihr nicht mehr helfen, sie war schon im Schlund verschwunden. Du hattest Glück, dass sich Kah so heftig gewehrt hat. Vorsorglich verschwieg Kesimo, was er Schreckliches gesehen hatte, als sich der Wolkenstrudel zu einer Bestie verwandelte.
Niedergeschlagen blickte Jolanis auf das erschöpfte Tier und streichelte ihm liebevoll die weichen Nüstern.
Ich bin sehr stolz auf dich und bin