Diesem Umzug war einige Jahre zuvor die Heimkehr von Pauls Vater Emil voraus gegangen, der nach dreijähriger Kriegsgefangenschaft im Jahre 1948 wieder nach Hause entlassen wurde, das heißt überraschend für alle, unangekündigt in der Beethovenstraße ankam. Ihn hatte man, wie bereits berichtet, in Frankreich gefangengenommen, über den Atlantik an der Freiheitsstatue und New York vorbei nach Kanada verfrachtet, wo er mit anderen Gefangenen in den Wäldern Bäume fällte und diese mit Pferden im strengen kanadischen Winter abtransportierte. Von Bären wurden sie glücklicherweise verschont, nicht jedoch vom Weitertransport nach England, wo Emil in einer schottischen Bäckerei bei Glasgow arbeiten musste. Hier waren die Ernährung und die Arbeit, Emil war schließlich Bäckermeister, gut. Als er in Oggersheim ankam, traf ein gut ernährter Heimkehrer auf eine unterernährte Familie. Zunächst war Emil ein Störfaktor in der kleinen Familie, die bisher ohne männliches Oberhaupt ausgekommen war. Man musste sich erst aneinander gewöhnen. Das war nicht einfach, wie sich bereits am zweiten Tag herausstellte. Der sechsjährige Gerhard hatte beim Abendessen, wie er es leider oft tat, als erster nach dem größten Stück gegriffen, kaum hatten die anderen Platz genommen. Anna hatte die Schüssel mit Frikadellen gerade abgestellt, als Gerhard die größte davon blitzschnell ausgemacht hatte, mit der Gabel zustieß und hineinbiss, damit sie ihm nicht mehr weggenommen werden konnte. Da schimpfte der neue Mann im Hause los: „Du hast als Kleinster hier am Tisch gefälligst zu warten, bis du dran bist!“ Gerhard fing daraufhin an zu maulen und schleuderte die Frikadelle zurück in die Schüssel. Jetzt folgte ebenso schnell eine kräftige Ohrfeige, worauf Gerhard aufheulte und mit Tränen in den Augen zornig zur Mutter hingewandt schrie: „Schaff den Mann aus dem Haus, er soll weggehen!“ Mutter Anna versuchte die Situation zu entschärfen und die Streithähne zu besänftigen. Zu ihrem Mann sagte sie erklärend: „Emil, du musst verstehen, Gerhard wäre im Krieg als Baby beinahe an Diphtherie gestorben, es stand sehr schlimm um ihn; die Ärzte wollten schon aufgeben. Ich habe um ihn gekämpft und er hat überlebt. Danach habe ich ihn vielleicht etwas zu sehr verwöhnt.“
Vater Emil fand Arbeit in der Großbäckerei des Konsum in Ludwigshafen. Fast mitten in der Nacht ging er aus dem Haus, und, da so früh noch keine Elektrische fuhr, legte er den weiten Weg in die Stadt mit dem Fahrrad, später mit dem Moped, zurück. Um vier Uhr morgens begann die Arbeit in dieser Brotfabrik und war am frühen Nachmittag zu Ende, so dass er oft noch die Zeit fand, bei seinem alten Freund Georg vorbei zu schauen, den er noch von der Lehre her kannte. Dieser Georg betrieb in Oggersheim eine kleine Bäckerei, die Bäckerei Herrmann. Seine Backerzeugnisse waren im Ort nicht sehr berühmt, besonders die Brote waren einseitig zu dunkel gebacken. Georg führte dies auf den veralteten Backofen zurück, bei welchem die Feuerung nicht mehr richtig funktionierte. Da er die Bäckerei gepachtet hatte und der alte Besitzer keine Investition vornehmen wollte, war die Situation ziemlich verfahren. Emil half seinem unverheirateten Freund Georg, der ebenfalls wie er selbst, spät aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt war, bei verschiedenen Dingen, die außerhalb des eigentlichen Brötchenbackens lagen. So kam es, dass Paul eines Montagnachmittags von Vater Emil zur Bäckerei mitgenommen wurde, wo Georg davor bereits mit seinem Tempo Dreirad Lieferwagen wartete, um einem Gerichtstermin in Bad Dürkheim wahrzunehmen. Es ging im Amtsgericht um den Prozess mit seinem Vermieter wegen der Mietminderung, die er hinsichtlich der veralteten Einrichtung vorgenommen hatte. So ein Tempo Dreirad Lieferwagen, wie der von Georg, fuhren in der Nachkriegszeit viele. Vorne, vor dem zweisitzigen Fahrerhaus, befand sich die spitz zulaufende Motorhaube mit einem Zweitaktmotor darunter, welcher das Vorderrad antrieb. Diese Fahrzeuge konnte man bereits von weitem durch ihr typisches Zweitaktgeräusch, das sich wie eine Herzrhythmusstörung des Motors anhörte, sowie durch den strengen Geruch des Abgases nach verbranntem Öl, wahrnehmen. Paul nahm, da das Führerhaus mit Georg am Steuer und Emil als Beifahrer gut ausgefüllt war, auf der offenen Ladepritsche Platz. Mit mittlerer Geschwindigkeit ging es auf der Dürkheimerstraße bei schönem Wetter dahin. Maxdorf wurde passiert, Birkenheide hinter sich gelassen, als das Fahrzeug die Weinreben des Feuerbergs kurz vor Bad Dürkheim erreichte. Da, plötzlich, scherte der Lieferwagen unvermittelt nach rechts aus, fuhr holpernd über die Grasnarbe am Straßenrand, wurde abrupt abgebremst und kippte fast die steile Böschung hinab, als er zum Stehen kam. Paul wurde auf der Ladefläche hin und her geschleudert und hatte Glück, dass er sich an einer der niedrigen Seitenwände festkrallen konnte. Vater Emil entstieg nun dem Führerhaus, kam nach hinten und legte den Zeigefinger an den Mund. Er sagte zu Paul zuerst: „Pst, Georg ist eingeschlafen; lassen wir ihn ein wenig in Ruhe.“ Erst dann erkundigte er sich bei Paul nach dessen Befinden, was Paul nicht weiter krumm nahm, da er außer dem Schrecken unversehrt war. So saßen sie zusammen am Straßenrand und Vater Emil konnte seinem Sohn berichten, dass Georg plötzlich eingenickt sei und er als Beifahrer ins Steuer gegriffen und gleichzeitig die Handbremse mit aller Kraft angezogen habe, bis der Motor abwürgte. Paul erfuhr bei dieser Gelegenheit auch viel über das anstrengende Bäckerhandwerk mit seinen ungünstigen Arbeitszeiten, aber auch von dem einmaligen Geruches frisch gebackenen Brotes. Georg wachte nach einer guten halben Stunde wieder auf. Man fuhr weiter zum Gericht in der Seebacher Straße, übrigens das älteste linksrheinische Gericht Deutschlands, verlor den Prozess trotz Zeugenaussage von Emil über den miserablen Bäckereizustand, und fuhr wieder nach Oggersheim zurück. Wenig später kündigte Georg den Pachtvertrag und verdingte sich ebenfalls in der Konsum-Bäckerei. Die traditionsreiche Bäckerei Herrmann war damit Geschichte und wurde endgültig geschlossen.
Oggersheim besaß damals auch ein Kino, am Schillerplatz gelegen. Leider erhielten die Kinder der Zolas keinerlei Taschengeld, so dass der Besuch des Lichtspielhauses, wie es hochtrabend hieß, nicht möglich war. Außerdem mussten die Filme ja jugendfrei sein. Da geschah es, Paul konnte sich noch sehr genau an dieses Ereignis erinnern, als Vater Emil eines Sonntagnachmittags verkündete: „Wir gehen heute ins Kino!“ Der Einwand von Mutter Anna, das sei rausgeworfenes Geld, wurde von ihm überhört. Wie der Film hieß, wusste Paul später nicht mehr zu sagen, nur, dass es ein sogenannter Indianerfilm war, in schwarz weiß. Ein Film ab zwölf Jahren, wie es auf dem Filmplakat unten rechts stand. Das Problem der Familie Zola bestand darin, dass Söhnchen Gerhard eigentlich noch zu jung für den Film war. Vater Emil jedoch entschied: "Der ist alt genug!" Das Filmplakat noch handgemalt, wie damals üblich, zeigte einen Indianerhäuptling im Federschmuck und im Hintergrund eine Herde Bisons und Indianerzelte. Eigentlich eine Art Heimatfilm aus dem frühen Amerika. Man schritt also rechtzeitig, gemeinsam zur Hauptvorstellung um neunzehn Uhr dreißig in Richtung Schillerstraße. Der Andrang an der Kasse war bereits recht groß. Es gab ja damals weder Fernsehen noch andere Zerstreuungen, sondern nur das Kino und das Radio. Vater Emil erstand Eintrittskarten für die Mitte. Eine Kostenentscheidung. Die teuersten Plätze waren vorne, denn die Leinwand war sehr klein und die Sitzreihen nach hinten nicht überhöht. Wer hinten saß, sah schlecht oder fast gar nichts, wenn ein Sitzriese davor war. Kurz vor Vorstellungsbeginn war das Kino ausverkauft, wie es hieß. Bei zunehmend schlechter werdenden Luftverhältnissen in dem Kinosaal mit den vielen Menschen, begann die Vorstellung mit der Fox tönenden Wochenschau und danach folgte der Hauptfilm. Paul hatte Mühe, etwas zu sehen, denn vor ihm saß eine Frau mit Hut, was damals in Theater und Kino noch gestattet war. Von dem Film blieb ihm in der Erinnerung vor allem die Frage zurück, warum keiner der zahlreiche Akteure aufs Klo musste, während er doch ab der Mitte der Vorstellung einen zunehmenden Harndrang verspürte, der ihm die Kinovorstellung am Ende verdarb.
Platzangst
Es fing eigentlich an dem Tag an, als Paul , der gerade erst zwei Wochen mit seiner Familie von Oggersheim nach Ludwigshafen umgezogen war, auf der Straße vor dem Mietshaus, in welchem sie jetzt wohnten, in eine altersgemäße Clique von Jugendlichen geriet, die ihm sagten, wo es am spannendsten war, zu spielen. Es war die ganz in der Nähe befindliche Ruine der ehemaligen Berufsschule, die im Krieg abbrannte, aber von der das komplette Kellergeschoss erhalten blieb. Der Schutt der oberen Gebäudeteile war weggeräumt und im ersten Moment hätte man den Eindruck haben können, es handele sich