„Vati“, drängte der Sohn, „willst du nicht endlich sagen, was dich herzieht?“ Er stockte. „Entschuldige, aber ich …“
Vater machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Schon gut. Immer noch die gleiche Ungeduld, hast du wohl von mir“, lächelte er. „Also gut: Ich möchte das Moorland besuchen, das du beschrieben hast. Und den Oheim kennen lernen.“
Carl lachte hellauf. „Sonst nichts?“ Lachend ergänzte er: „Du weißt so gut wie ich, dass das eine Illusion ist, Teil eines Romans eben, keine Wirklichkeit!“
„Schon“, stimmte Vater zu, „aber jemand muss dir Hinweise gegeben haben, das kannst du dir nicht alles aus den Fingern gesaugt haben!“
Carl lachte ein wenig verlegen. „In diesem Fall schon: Alles ist auf meinem Mist gewachsen.“ Hinterher ärgerte er sich, hinzu gesetzt zu haben: „Nun ja, das eine oder andere mag mir zugeflogen sein …“
„Steckte er dahinter?“, wollte Vater wissen.
Erstaunt fragte Carl: „Wer soll dahinter gesteckt haben?“
„Na der Oheim, wer sonst!“, gab Vater zurück, als wäre es ganz selbstverständlich.
„Vati, ich erklärte gerade, alles ist Fiktion! Auch ihn, den Oheim, gibt es nicht wirklich. Niemand aus dem Roman existierte je!“
Vater tat, als hätte er es nicht gehört. „Kannst du mich ins Moorland führen?“
Gereizt erwiderte Carl: „Es gibt kein Moorland, wie oft soll ich das noch sagen! Es ist erdichtet, reine Fantasie.“
Das starre ausgezehrte Gesicht wandte sich dem Sohn zu. Langsam, als fiele ihm das Geständnis schwer, sagte er: „Ich habe dich nie um etwas gebeten, das dir große Mühe bereitet hätte. Nun bitte ich dich um etwas, du könntest wenigstens zusagen, es zu versuchen.“ Flüsternd fügte er hinzu: „Ich habe nur diese eine Chance, eine zweite bekomme ich nicht.“
Carl startete den Wagen, knipste die Scheinwerfer an. „Gut, wenn es dich denn beruhigt, ich werde mich bemühen.“ Er fuhr auf die Gerade, erhöhte die Geschwindigkeit, verspürte einen Luftzug, blickte zur Seite, der Platz neben ihm war leer. Abrupt bremste er, hielt am Seitenstreifen, kramte zitternd einen Apfel aus der Tasche, biss ab. „Gott, was war das denn! Ein Sekundenschlaf? Muss zur Therapeutin“, murmelte er, „so geht das nicht …“ Gleichwohl wollte ihm der Satz Vaters, den er Wort für Wort im Gedächtnis behalten hatte, nicht aus dem Kopf gehen. ‚Ich will mit dir ins Moorland, möchte den Platz mit dem Häuschen sehen und den Alten treffen, der dir die Zukunft vorausgesagt hat. Vielleicht können wir auch den ominösen Berg besteigen.‘
Er war sich der Gefahr bewusst, sich ständig mit Trugbildern auseinanderzusetzen, zumal er sich mit der Unterscheidung, wo die Realität aufhörte und die Welt der Träume anfing, schwer tat, der Übergang war fließend. Den Vorsatz, seiner Fantasie Fesseln anzulegen, hatte er oft gefasst, aber immer hatte sie eine Lücke gefunden, um durchzuschlüpfen. Obwohl er genug zu tun hatte, sich zusätzlich des von außen einwirkenden Drucks erwehren musste, beabsichtigte er, die Bitte Vaters zu erfüllen, wusste allerdings nicht wie.
Ein Schreiben mit amtlichem Aussehen – weil dergleichen mit Scherereien verbunden ist, zögerte er mit dem Öffnen –forderte ihn auf, sich im folgenden Monat, das genaue Datum werde ihm rechtzeitig mitgeteilt, zur Anhörung vor dem oben bezeichneten Gericht einzufinden. Das Amtsdeutsch klang vertraut, von einem Gericht für exterritoriale Prozesse hatte Carl allerdings noch nie gehört. Unter dem Siegel mit einem exotischen Wappen standen weder Adresse noch Telefon- oder E-Mail-Nummer, auch das fehlende Datum fiel aus dem Rahmen. Sekundenlang starrte er auf das Schreiben, das ihn beunruhigte, ohne einen Grund angeben zu können. Von einem Witzbold? Er warf es in den Papierkorb, hätte darauf vergessen, wären nicht am nächsten und übernächsten Tag ähnlich lautende Briefe in der Post gelegen. Die Aufforderung klang entschiedener, am dritten Tag war ein Satz angefügt, der nicht mehr witzig klang: Sollte er nicht erscheinen, hätte er mit unerquicklichen Konsequenzen zu rechnen. Am unteren Rand stand: ‚Solange die Vorbereitungen für das Gerichtsverfahren laufen, werden Sie von Misslichkeiten verschont.’ Das war kein Beweis für einen Zusammenhang zwischen Belästigungen und dem im Telefonbuch nicht verzeichneten Gericht. Wie aber konnte das Gericht über Sachverhalte Bescheid wissen, die er nie jemandem anvertraut hatte? Ein Anwalt würde ihm raten, den Wisch wegzuwerfen, ein Gericht dieses Namens existiere nicht. Im Schreiben sei nicht mal eine Andeutung zu finden, was man ihm vorwerfe – ohne Anklagegrund kein Gerichtsverfahren. Und doch dachte er öfter als ihm lieb war an die Aufforderung, vor Gericht zu erscheinen. Vater hätte ihm vermutlich geraten, abzuwarten und anderes blieb ohnehin nicht zu tun. Ohne Adresse konnte er nicht einmal die Ladung als nichtig zurückweisen. Nach einer Weile traf abermals ein Schreiben des Gerichts ein, der Termin werde wegen der Komplexität des Falls und seines geplanten Besuchs im Schattenreich verschoben, ihm obliege es, inzwischen die erforderlichen Dokumente vorzubereiten. Was sollte er von der Vorladung eines Gerichts halten, das offensichtlich nicht existierte und es nicht für notwendig erachtete, ihm mitzuteilen, wessen er beschuldigt werde. Was war mit den erforderlichen Dokumenten gemeint: Geburtsschein, Pass und dergleichen? Und was sollte die Andeutung, sein Besuch im Schattenreich sei geplant? Das klang äußerst befremdlich, fast abwegig, es lohnte nicht, darüber nachzudenken.
Er hatte Vater versprochen, sich zu bemühen, ihn an einen Ort zu führen, der seiner Einbildungskraft entsprungen ist, nur im Roman eine Rolle spielte. Er hatte von einem Land fantasiert, das er nie gesehen hat und das es nicht gab. Auf der anderen Seite unterschied er selbst oft nicht zwischen Fiktion und Realität, lebte zwei Leben: Den Alltag mit Familie und Arbeit im Mittelpunkt und das andere mit den seinem Kopf entsprungenen Figuren, die zum Leben erwacht waren und gewissermaßen ein Eigenleben führten. Beim Schreiben des Romans war der Text in die Tasten geflossen, als würde jemand diktieren. Hat Vater das gemeint als er sagte, jemand müsse ihm das zugeflüstert haben?
Bekannte, die sich über seine auffallende Zerstreutheit wunderten, konnten nicht ahnen, dass er sich so intensiv in die Romangestalten einfühlte, dass alles andere eine Nebenrolle spielte. Hätten sie es, hätten sie ihm vermutlich empfohlen, einen Nervenarzt aufzusuchen. Es gab keinen stichhaltigen Grund, auf Vaters Wunsch einzugehen, das Moorland zu suchen, dennoch wollte er es versuchen, auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, wo anfangen.
4. Weg ins Moorland
Wie ein Moor finden, das er zwar beschrieben hat, das es aber nicht gab? Sein Versuch, Vater zu überzeugen, die Örtlichkeiten des Romans seien nichts als Fantasieprodukte, war erfolglos geblieben und er wusste, Vater würde keine Ruhe geben, ehe er es nicht wirklich versucht hat. Überraschend und ohne sein Zutun fand sich im Kopf eine gegenläufige Entwicklung statt: Je mehr er sich gedanklich auf das Moor einließ, desto schneller schien die Sicherheit zu schwinden, nie doch dort gewesen zu sein.
Im Norden gibt es hunderte Moore. Er untersuchte die Landschaftsbeschreibungen im Roman, vielleicht hatte er unbewusst auf Fotos in Büchern oder Zeitschriften zurückgegriffen. Seit langem hatte er nicht darin mehr gelesen, ein seltsames Gefühl erfasste ihn, als hätte sich der Stoff selbständig gemacht, als führten die Figuren ein von ihm losgelöstes Eigenleben und er überlegte, ob das Schaffen einer Romanfigur im Gedächtnis des Urhebers Spuren hinterlässt. Er fühlte sich in Hannes ein, begann sich mit ihm zu identifizieren, empfand Hannes zugeschriebene Gedanken und Erlebnisse so intensiv, dass er vermeinte, es wären seine. Er rief Szenen und Schauplätze auf, um Anhaltspunkte über die Lage des Moors zu finden, durchkämmte im Geist die Moore, die er allein oder mit seiner Frau – das Streifen durch die Moore, die voller Geheimnisse zu stecken schienen, hatte auch sie geliebt – besucht hat, vielleicht stieß er auf einen Hinweis. Vermutlich lag das Moor nicht weit vom Wohnort entfernt, er musste einige Male dort gewesen sein, um es so genau beschreiben zu können. Und allmählich festigte sich die Überzeugung, dass es mehr war als ein Fantasieprodukt, er radelte zu den Mooren in der Umgebung, schied zwei gleich aus, die Warntafeln ‚Achtung, Kreuzottern!’ schreckten ab. Seine Schlangenphobie hat er nie überwunden. In anderen Mooren stellten