Über dem Wasser lag dick er Nebel wie Watte, der Seitenarm zwischen Ufer und Sandbank war kaum auszumachen. Zögernd überließ der weichende Tag der Nacht das Feld. Windstöße rissen Löcher in die Nebelbank, gaben den Blick aufs Wasser frei. Carl setzte sich auf einen Schieferquader auf dem Sporn, der im flachen Winkel abfiel und sechs oder sieben Meter ins Wasser ragte. Die kunstvoll aus Felsbrocken gefügten Sporne zähmten den Fluss, in ihrem Schutz hatten sich Sandbänke und Inseln aus flachen Steinen gebildet, Weidensträucher angesiedelt. Im letzten Hochwasser waren Plastikfetzen in den Zweigen hängen geblieben. Auf einer Insel hatten sie eine Hütte gebaut und am offenen Feuer gestohlene Maiskolben geröstet. Nach einem Sommergewitter, dem tagelanger Sturzregen folgte, hatte sich der Fluss in ein reißendes Gewässer verwandelt, die Ufer überschwemmt und die Insel samt Hütte weggerissen. Hatte sich der Fluss wieder beruhigt, war Carl oft allein hier gewesen, hatte im Mehlsand liegend in die gemächlich ziehenden Wolken gestarrt.
Es war Nacht geworden, Wellen blubberten ans sandige Ufer, gedankenverloren saß er da, verlor das Gefühl für Zeit. Eine Böe riss Fetzen aus dem Grau, blies sie fort, der Mond spiegelte sich silbern im Wasser. Auch als Junge war er nachts hier gesessen und hatte im Licht des Erdtrabanten Mundharmonika gespielt. Nun, da graue Strähnen sein Haar durchzogen, sann er über die verronnenen Jahre nach. Er war immer gern allein gewesen, ihn hatte eine Aura der Einsamkeit umgeben. Seine Kumpel hatten dieses In-sich-Versenken nicht verstanden, aber seine selbst gewählte Isolierung akzeptiert, es hatte keinen Sinn gemacht, ihn umstimmen zu wollen.
„Er hat seine Tage“, war ihr spöttischer Kommentar gewesen.
Einsam ist er geblieben, daran hatten weder Freunde noch Freundin etwas geändert und die Hoffnung, die Ehe werde die Absonderung beenden, war nur zu Beginn in Erfüllung gegangen. Bald nach den ersten, einigermaßen guten Ehejahren hatte er sich öfter in die Abgeschiedenheit geflüchtet. Nach dem Grund gefragt, hatte er erwidert: „Gedanken brauchen Freiheit, wie wir die Luft zum Atmen.“
Nebelschleier wallten vom Wasser hoch, hüllten Bäume und Sträucher ein, schoben sich vor den Mond bis er ganz verschwand. Leise plätscherten die Wellen über die glatt geschliffenen Steine, hin und wieder knackste es im Gehölz, sonst nur das Rascheln der Blätter. Auf einmal vernahm er schlurfende Schritte im Mehlsand, die sich näherten, er erstarrte, wollte aufstehen und gehen, doch er war außerstande, sich zu erheben. Aus dem Grau bewegte sich ein Schatten auf ihn zu, eine gebeugte Gestalt kam mit schleppenden Schritten näher, geheimnisvoll und doch irgendwie vertraut.
„Bleib ruhig sitzen“, hörte er eine Stimme, die er lange nicht mehr oder nur im Schlaf vernommen hatte. „Keine Angst, ich bin es, dein Vater.“
Allmählich löste sich die Erstarrung, Carl erhob sich, um das Trugbild abzuschütteln, war sich bewusst, das konnte nur eine Sinnestäuschung sein. In letzter Zeit hatte er viel gearbeitet, seine Nerven lagen blank.
„Nein, deine Nerven sind schon in Ordnung und du bist nicht krank“, beruhigte ihn die rauchige Stimme Vaters.
Carl vermeinte, das leise Lachen zu vernehmen wie früher, wenn sich Vater über einen Streich amüsiert hatte. „Ich will mit dir plaudern.“
Noch immer brachte der Sohn kein Wort hervor.
„Willst du mir nicht wenigstens guten Abend wünschen und fragen, wie’s mir geht?“
Langsam klärte sich das Wirrwarr im Kopf. „Ich bin, ich glaube …“ stotterte Carl.
Vater trat zu ihm, legte ihm die Hand auf die Schulter, so leicht, er spürte sie nicht. „Du bist verwirrt, kein Wunder, hast nicht erwartet, mich zu sehen. Ich will mit dir reden, vielleicht kann ich dir abermals einen Rat geben.“ Anspielung auf das zwielichtige Projekt mit den Dollarmillionen.
„Aber du bist doch …“, wandte Carl ein.
„Richtig, ich bin gestorben, vor Jahren schon. Das wolltest du doch sagen? Ja mein Lieber, ich bin tot, mausetot wie man zu sagen pflegt. Mir bleibt nicht viel Zeit, um zu erklären, was der Grund meines Besuchs ist.“
Vater hatte das Gesicht abgewendet und als er es ihm zudrehte, war in seinen Augen ein kraftloses gelbliches Flackern, Carl dachte an einen Kerzenstumpen vor dem Verlöschen. „Das muss ein Traum sein“, brach es aus Carl hervor. „Du kannst nicht durch den Sand latschen wie ein Lebender und reden!“ Er bildete sich ein, den Lufthauch zu spüren, als der alte Mann um ihn herumging und ihn von allen Seiten betrachtete, ohne auf den Einwand einzugehen.
„Bist älter geworden, Sohn, lass mich rechnen: Über fünfzig müsstest du sein …“
„Bald fünfundfünfzig“, bestätigte Carl und fuhr mit der Hand durch die Haare, eine Geste der Verlegenheit. „Gut, dass es dunkel ist und Nebel herrscht. Käme jemand vorbei, würde er annehmen, ich sei übergeschnappt: Hier im Dunkeln zu sitzen und zu reden!“
„Um die Uhrzeit kommt niemand vorbei, aber er würde das wohl denken“, stimmte Vater zu. „Zumal er mich weder hören noch sehen könnte.“
Der Mond lugte durch ein Nebelloch, Carl sah das verschmitzte Lächeln. „Du lachst wie früher…“, flüsterte er.
„Na ja, das ist wohl etwas übertrieben“, korrigierte der Alte und verzog den Mund.
Sein Gesicht Vaters wirkte eingefallen, die hagere Gestalt hob sich scharf im Mondlicht ab. Wo ein Schatten ist, überlegte Carl, muss etwas sein, das Schatten wirft, aber da war nichts. „Du schaust nicht gut aus, es geht dir wohl nicht gut, dort wo du bist.“
Das düstere Gebilde, Carl wusste nicht recht, wie es benennen, schüttelte den Kopf. „Wo ich bin, geht es einem weder gut noch schlecht. Manchmal sehe ich aus wie in den letzten Monaten im Leben, dann wieder wie ein Toter. Ich fühle den Wandel nicht, weiß aber, dass es so ist …“
Unsicher reagierte Carl. „Ich kann es nicht fassen Vati“, spontan benützte er die gewohnte Anrede, „dass du hier bist.“ Er zögerte. „Du gehst mir ab, niemand, der mit mir stundenlang diskutiert, niemand, dem ich erzähle, was mich bewegt, niemand, der mir Ratschläge gibt und in schwierigen Situationen hilft, ohne zu fragen, was er davon hat.“ Er stellte richtig: „Nun, ganz stimmt das nicht, du erscheinst manchmal im Traum …“
„Ich weiß, meen Jung, ich weiß“, antwortete Vater in dem Tonfall, wie er mit ihm gesprochen hatte, als er klein war. „Trotz Familie bist du allein geblieben. Das Gefühl war auch mir nicht fremd.“ Er zauderte, zog den weiten Mantel um sich. „Dir muss kalt sein bei dem Wetter.“ Ohne Übergang flüsterte er: „Wie gerne würde ich noch einmal an der Westseite unseres Hauses in der Sonne sitzen, ein einziges Mal.“ Er stockte, hob den Kopf. „Aber ich bin nicht gekommen um zu jammern und der Vergangenheit nachzuweinen. Es geht um dich. Du bist nicht glücklich, hast meine innere Unruhe geerbt …“
Carl schwieg. Das erste Mal, dass Vater mit ihm dergleichen besprach, er hatte Gefühle oder geheime Gedanken nie preisgegeben.
„Richtig“, stimmte Vater seinen Überlegungen zu. „Es sei denn, ich hatte einige Gläser intus, dann fiel es mir leichter, über Gefühle zu sprechen. Das lag an der Erziehung, aber es tut nicht gut, seine Emotionen ständig zu kontrollieren und im Zaum zu halten. Das kostet Kraft, unnötige Kraft und hat innere Starre zur Folge.“ Er setzte sich auf den blank polierten Baumstamm, den das Hochwasser angeschwemmt hatte. „Du wunderst dich über die Erkenntnis, sie kommt leider zu spät.“
Carl vermeinte das Lächeln