Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann. Hans-Dieter Heun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Dieter Heun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742728463
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für langandauerndes Denken. Nein, er war sauer auf die Rechtsruhende, denn die lag und stank.

      Seit geraumer Zeit verfing sich das holde Wesen in den Überredungsnetzen einer Vertreterin der homöopathischen Heilkunst, um – unschuldig im Sinn – für ihn die Schönste zu sein. Doch jenes impertinente Kräuterweib, selbst ein Bildnis blühender Pickel, riet seiner Bettgenossin zu den angeblich Reinheit spendenden Säften des melaleuca alternifolio. Also zu Teebaumöl. Überaus folgsam und vorschriftsmäßig hatte sich der Unschuldsengel vor dem Zubettgehen gründlich vom Hals abwärts über ihre wundervollen Apfelbrüste, den flachen Bauch und die nervösen Schenkel bis zu ihren Kinderfüßen, Größe 35, mit diesem, an sich allein für Asiaten gedachten Gottesgeschenk gesalbt.

      Es war dies ein ganz eigener Gestank. Nachdem Hannemann die Beischlafwillige, Migräne vor ihre tastenden Finger schiebend, mit einem angestrengt sanften Gute-Nacht-Kuss in die Träume entlassen hatte, grübelte er, wann er ähnlich Übles schon einmal gerochen hatte. Es fiel ihm nicht ein, doch das süßliche Rüchlein wehte unentwegt weiter.

      Teebaumöl, pah, eine geradezu hundsföttische Art, dem geliebten weiblichen Körper solch grauenhaftes Aroma anzukleben. Hannemann verfluchte jenes rachsüchtige Wurzelweib. Die musste mit einem Irgendjemand pennen, während er, wann immer er wollte – und er wollte oft, aber konnte nicht immer – einem jungen blühenden Weib beischlafen durfte. Aber die stank. Was also anfangen in den langen schmerzenden Stunden der Nacht? Die Antwort war einfach: an Ingrid denken. Ingrid, sein Veilchen, seine Fliederblüte oder seine rote Rose – alles wunderschöne Gewächse mit duftenden Blüten. An Ingrid als sein Hühnchen zu denken, das verbot er sich strikt. Obwohl ein Hühnchen, mit frischem Thymian und Zitronenabrieb gebraten, gleichfalls phantastisch gut duftet.

      Wer nicht hören und riechen will, muss fühlen. Schön für ihn.

      Fühlen, mit allen Poren der Haut sehen, hören, schnuppern und schmecken. Begreifen und begriffen werden. Tasten und ertastet werden. Die Neugierde des Zauberers war grenzenlos. „Was macht er jetzt?"

      „Er begreift, er tastet nach dem Geschlecht." Gott erklärte mit Engelsgeduld. Ihre Geduld von jenen Geflügelten geliehen? Nein, jenen Flatternden von Ihr verliehen.

      „Jetzt schon? So früh?" Der Zauberer wunderte sich, schließlich herrschte Sitte und Anstand. Damals.

      „Wie soll er das sonst alles schaffen? Wie immer hat er nur ein Leben, und früh übt sich, was ein Meister werden will." Gott sah das Gesamte und nicht die Konvention.

      „Wird er denn jemals ein Meister im Geschlecht?"

      „Wer kann das sagen, wenn nicht die Frauen?" Toll, Gott mit einer Gegenfrage.

      „Normalerweise doch wohl wir, denn wir beobachten!"

      „Glaubt Ihr das wirklich?"

      Der Knabe wuchs weiter, erfuhr Veränderungen, doch unverändert fuhr er weiter Rad im Uhrzeigersinn mit seiner geliebten Ingrid. Und während er im Innenhof seine Runden drehte, erblühte Deutschland dreizehn Jahre nach dem großen Krieg. Das hatte Folgen.

      „Hannemann, ich fahre mit Papa nach Italien. Tante Ute kommt zu Besuch und wird auf dich aufpassen!"

      Die Ankündigung dieser Mutter saß. Erstens hasste er seinen Spitznamen, der ihm seit frühestem Kindesalter anhaftete. Eine merkwürdige Ableitung von ehemals Baby Hasemännchen, wohl wegen seiner großen, wohlgeformten, aber dennoch abstehenden Ohren. Zweitens bedeutete die Ankündigung „Urlaub in Italien", dass er und die Familie nun wohl endgültig reich waren.

      Er war der erste in seiner Klasse gewesen, der – von München aus nicht weit, aber damals noch unvorstellbar – eine Landesgrenze, nämlich die nach felix austria überqueren durfte, nur um an einen gewissen Wolfgangsee in einem merkwürdigen Hotel namens „Weißes Rössel“ einen schlecht schmeckenden Apfelkuchen mit schlecht schmeckender Sahne zu verzehren. Ein Tagesausflug. Seine Auslandserfahrung hatte ihn jedoch vor den Schulkameraden ungemein aufgewertet, und jetzt fuhren diese Eltern sogar nach Italien. An das oft in Sagen beschriebene, trotzdem nicht vorstellbare wilde Meer. Ein Land, wo die Zitronen blühen sollten. Das war doch Stoff, mit dem man angeben konnte.

      Wermutstropfen, die Aufgabe jener Tante Ute. Er war schon fast vierzehn, konnte also sehr gut auf sich selbst aufpassen – zumal jene Anverwandte nur acht Sommer älter war als er.

      Onkel Ottokar sah so aus, wie er hieß, nämlich wie ein reifer Kürbis mit Baskenmütze. Dieser gute Onkel hatte Tante Ute, als sie gerade siebzehn, aber schon ein Mistviech war, mit Zwillingen versorgt und danach auf massivem Druck der Familie ehrbar gemacht. Ehe. Onkel Ottokar besaß jedoch den Fleiß und Unternehmungsgeist einer Arbeitsameise, gepaart mit dem Mut und der Libido des Löwen. Onkel Ottokar baute folglich ein Floß, sammelte Tante Ute und die Zwillinge ein – sehr zur Freude einer Vielzahl von jungen geilen Kanadiern – und schiffte in deren reiches, gelobtes Land.

      Onkel Ottokar schaffte, wovon Onkel Ottokar geträumt hatte, und konnte es sich bald leisten, Tante Ute auf Urlaub in das good old Germany loszulassen. Einmal, weil er seinen Reichtum der popeligen Verwandtschaft so richtig zeigen wollte, zum anderen, weil sich Onkel Ottokar sehnlichst wünschte, endlich mit dem indianischen Kindermädchen allein zu sein. Tante Ute, lockendes Bardot-Imitat, war nicht sehr traurig über diese Abwechslung.

      Am Nachmittag, nach der Schule und einer ziemlich schlecht zubereiteten Mahlzeit durch Tante Ute – zu oft saure Schweinsnieren mit Salzkartoffeln – fuhr er mit Ingrid Rad. Sie war frisch und rein, trug weiße Hemdbluse und blauen Schulmädchenrock, ebenfalls weiße Kniestrümpfe und schwarze Lackhalbschuhe. In ihrer Gegenwart fühlte sich Hannemann selig sauber. Das Mädchen war jeden Tag sein Ziel, sein Glück in viel zu schnell verrinnenden Stunden. Allein ein Umstand machte ihm gedanklich zu schaffen, nämlich wie er seinen damaligen Wunschberuf als katholischer Missionar bei den unglaublich ungläubigen Wilden in Brasilien mit einer Heirat von Ingrid in weißem Tüll vereinbaren konnte. Ja, Ingrid im weißen Tüll würde besonders frisch und unschuldig sein.

      Zur Missionarsberufung wurde er angeheizt vom Funkturm Gottes, seinem ellenlangen und klapperdürren Schulpfarrer. Der Priester leitete ebenfalls ein christliches Trainingszentrum, das Hannemann zweimal wöchentlich mit Eifer besuchte. Zwei Stunden heiliger Psychoterror für äußerst wichtige Erkenntnisse des katholischen Glaubens, aus Sicht des Funkturms wenigstens: stockkonservative Glaubenssätze, entsprungen einer stockkonservativen Kirche. Die Frage des von seinen feuchten Trieben beunruhigten Jungen nach dem Sinn der unkeuschen Gefühlswallungen beantwortete der Funkturm jedoch ziemlich modern: Gesundes Kacken habe auch etwas lustvoll Befreiendes, daher sei beides natürlich und von Gott gewollt.

      Zölibat bleibt Zölibat, und dieser Irrsinn menschlichen Zusammenlebens bedrückte Hannemanns Gedanken. Er wollte Ingrid auf ewig, und ihre Ehe würde sich wohl ohnehin nur auf Radfahren und Reden, vielleicht noch auf gemeinsames Heidenbekehren am Amazonas beschränken. Das konnte vor des katholischen Gottes Augen doch nicht gar so verderbt sein.

      Dass Ingrid evangelisch war, wusste er damals noch nicht.

      Sieben Tage weilten die Eltern bereits in Italien, sieben Tage lebte Tante Ute mit ihm allein in seinem Zuhause. Der penible Haushalt dieser Mutter wurde zusehends schlampiger, obwohl sich Hannemann redlich bemühte, reinliche Ordnung zu halten. Die Atmosphäre in den Zimmern jedoch war anregend schwül. – Warum war damals kein katholischer Engel erschienen? Verdammt, wo versteckte sich ein Geflüügelter, der seine Keuschheit und die Missionarsstellung bei den unglaublich heidnischen Heiden noch hätte retten können?

      Kein Schutzengel erschien, und Tante Ute lief mit Nichts unter ihrem lila Morgenmantel durch die Wohnung. Alles an ihr offen sichtlich für aufregend heiße Sekunden. Sie nannte ihn „My little poor boy", womit sie ihre kanadischen Sprachkenntnisse bewies, und berührte ihn ständig. Mal strich sie ihm leicht, wie unabsichtlich, mit den lackierten Fingernägeln über die Brust bis zum Bauch, dann stupste sie ihn im Vorbeigehen neckisch mit ihrem schwingenden Becken und gab ihm, unerhört, plötzlich einen kleinen, mit feuchter Zungenspitze-draußen-Kuss auf sein Ohrläppchen.

      Außerdem trank sie Vaters wohl gehüteten Cognac und die sieben Flaschen Bier,