Das unglaublich unglaubwürdige Leben des Hannemann. Hans-Dieter Heun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Dieter Heun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742728463
Скачать книгу
immer das gleiche alte Lied, Neil Diamond und diese Möwe Jonathan. Der Koch kommt aus seiner Küche, hört sich diese Hippie-Musik an und säuft sich dabei langsam zu Tode.“

      „Ja, es ist sein Kreuz.“

      „Er redet mit sich selbst, tanzt dann wild herum, reißt sich die Kleider vom Leib und irgendwann kracht er dann vollbesoffen zu Boden und schläft seinen Rausch aus.“

      „Dem fehlt eine Frau. Ich sage dir, der braucht ganz dringend eine Frau.“ Die beiden Nachtwandler starrten sich an, erkannten die Wahrheit, der Schnauzer knurrte, und der Hundegassigeher seufzte resigniert: „Na ja, wer in unserem Alter braucht schon noch eine Frau.“

      „Was?“

      „Ich meine körperlich und so.“

      „Ach so, körperlich. So meinst du das also. Tja, wirst schon recht damit haben. Vorbei, wohl endgültig vorbei. Der Koch schläft allerdings ziemlich unruhig, wovon er wohl träumt?“

      „Ich glaube, er träumt sein Leben.“

      Der Traum

      Ich habe meine Flügel, die Macht zu fliegen verloren. Bin abgestürzt. Und ich sterbe, weil ich nur noch denke … Aber auch wieder saufe. Und wie! Ich verrecke stinkbesoffen im heißen Sand einer lieblichen Insel vor der Küste des sündigen Thailand. Weit von daheim entfernt. Weil ich aber denke – und auch wieder saufe –, werde ich in Höllenfeuern verglühen. Wenigstens bis zu einem nächsten Stelldichein hier auf Erden.

      Ich denke schon wieder: Stelldichein ist in diesem ernsten Zusammenhang ein gut gewähltes Wort. Stell dich darauf ein, nicht mehr zu fliegen, dafür zu denken, zu verglühen und dich erneut im Kreis zu drehen. Im Uhrzeigersinn besoffen torkelnd

      Ich habe mich stets, viele Leben lang, vor dem Feuertod gefürchtet, hasse Hitze, war Koch. Grauenhaft, so einfach zu verbrennen. Nun aber erkenne ich, dass es schlimmeres gibt, als in höllischen Flammen zu braten.

      Denken ist schlimmer, ewiges Grübeln bringt mich wieder einmal um. Kann nichts dagegen machen, sinniere den ganzen Tag und selbst noch in meinen Träumen. Allerdings ohne Lösungen zu finden, wie aus eigener göttlicher Kraft noch etwas zu ändern wäre.

      Es tut verdammt weh, zu begreifen, dass Alles, wahrhaft Alles meine Schuld war, ist und immer sein wird. Weh ist viel zu wenig, diese Schuld killt! Mein Saufen hilft beim Killen allein ein klitzekleines Bisschen dazu.

      Vielleicht, wenn ich versuche, meinem Sterben eine Ordnung zu geben?

      Ich zweifle, verzweifle schon lange, aber meinetwegen, ein letzter Versuch. Und uralte Küchenweisheit lautet: Probieren geht über Studieren. Doch, das ist so.

      Gott schenkte mir Vollkommenheit. Sie gab mir aber auch den Zweifel.

      Macht das Sinn?

      Nein. Das trügerische Sein durchschaute ich erst, als ich tief in den Spiegel der Droge A blickte, den Alkoholspiegel. Aus diesem besonderen Spiegel sah mich mein anderes Ich an: verbraucht, ausgemergelt, torkelnd, wieder einmal. Da wusste ich: Es gibt keine Wahrheit, es gibt nur eine Meinung.

      Und selbst das ist eine Meinung.

      Meine.

      Das allein macht Sinn.

      Ich bin dein Gott.

      Dein Löwe, dein Gebieter.

      Der einzige Inhalt deines einzigen Lebens.

      Sinn und Sinnlichkeit schlechthin.

      Und du, Frau, sollst meine zauberhafte Göttin sein.

      Ja, wahrhaft zauberhafte Göttin … Nur welche von den vielen verschiedenen verdammten Weibern in meinen vielen verschiedenen verdammten Leben?

      Macht das wenigstens Sinn? Vielleicht später, und außerdem wäre noch zu bedenken, ein Koch erzählt viele Märchen. Jetzt und immerfort.

      Der Zauberer sprach in sanften, doch drängenden Weisen. Und Gott antwortete ohne zu zögern, Sie lachte.

      Er wurde beobachtet, von Anfang an. Klar, durchsichtig ist jedoch nicht, von welchem Anfang an. Von Anfang dieses Lebens an oder von Anfang all seiner Leben an? Jedenfalls wurde er kritisch beobachtet, von vier Augen. Doch die griffen nie ein. Logisch. Hat man, wer auch immer das sein mag, schon jemals gehört oder gelesen, dass Augen eingreifen können? Augen können einsehen, wenn auch nicht begreifen. Augen melden nur Signale nach oben, dorthin, wo der Verstand sitzt … Oder sitzen sollte.

      Diese vier Augen meldeten also die Signale. Halt! Waren sie wenigstens dazu fähig? Immerhin müssten die vier Augen für diese besondere Form der Signale zumindest etwas begreifen können. Gut, den zwei Personen, so sie denn welche sind, die zu den vier Augen gehören, ist vieles, wenn nicht sogar alles möglich. Und nicht nur etwas. Ihre Augen kritisch melden zu lassen, zu begreifen und dann nicht einzugreifen, war und ist eine ihrer leichtesten Übungen.

      Fast war es ein Spiel. Die Augen der zwei Personen beobachteten, und er hatte langsam gemerkt, dass er eingesehen wurde. Von jemand. Nur verdächtigte er die Falschen. Es war schon richtig, seine Schöpfer zu verdächtigen, aber waren seine Schöpfer wirklich seine Schöpfer? Die Verantwortlichen? In letzter Instanz?

      Wurscht, er hatte aus allem gelernt, ein ganzes Leben lang oder auch viele Leben lang nachgedacht. Und vermeintlich begriffen. Jetzt gab er selbst Rätsel auf, erzählte bunte Märchen. Den Falschen wie den Richtigen, obwohl die Richtigen an sich die Lösung aller Rätsel, aller Märchen kennen sollten.

      Ein Rätsel: Die Farbe Schwarz. Er, der Märchenerzähler, spürte ihr Dasein überdeutlich, selbst wenn er in Träumen weilte. Er musste nur mit den Daumen seine Augenlider sanft, aber doch mit der notwendigen Festigkeit in ihre Höhlen drücken, und Es würde erscheinen. Es, das warme schwarze Loch, samtig weiblich inmitten von brillierenden Gestirnen. Stete Winde und himmlische Töne würden jene Sterne treiben, und er wäre in ihnen wohl aufgehoben, aufgefordert zu fliegen.

      Der Märchenträumer war sehr weit gekommen in der Kunst des Fliegens. Am Anfang der Unsicherheit hatte er noch ein Tuch, ein Laken, seinen Anorak oder einfach nur einen Schal wie Flügel zwischen Arme und Körper gespannt, um torkelnd und taumelnd von wehenden Tönen umher getrieben zu werden.

      Nun, sicher aus starker Seele, genügte es, allein seine Finger zu spreizen, und die Gier in ihm stieg: Ich will fliegen! Sofort! Fliegen war ihm vertraut, schön geworden. Und am schönsten war das Fliegen in die Schwärze: in den schwarzen Schoß einer Frau.

      Schwarz war von Bedeutung. Das Fliegen, die Sterne, der Wind und die Musik waren bedeutend, und bedeutend war gleichfalls die Bedeutung einer Frau. Doch er ahnte noch nicht wie sehr.

      Hannemann lag im Bett und genoss seine Schmerzen. Er wusste, sie waren seine unverzichtbaren Helfer, jetzt, wo er wieder einmal klar war. Klar von der Droge A. Ständige Pein half ihm jede Nacht, schlaflose Zeit zu gewinnen für die Suche nach dem Sinn seines Lebens. Des Lebens schlechthin und überhaupt. Jene munteren Schmerzen verdrängten die störende Müdigkeit, beschenkten ihn mit langen wachen Stunden, welche er dringend brauchte, weil er ahnte, fühlte, er war so nahe daran, der erste zu sein. Der erste, der verstand. Und auch das wusste er mit der Sicherheit des gestrigen Sonnenaufgangs, er war schon immer bestimmt gewesen, der erste zu sein. Nur warum er?

      Doch das war ebenfalls nur ein Teil des Rätsels „Sinn des Lebens". Es beruhigte ihn wohltuend, bereits so weit zu sein, um bewusst abstreiten zu können, es hätte schon andere gegeben, vor ihm, mit ihm oder selbst in der Zukunft, die verstanden und geschwiegen hätten. Diese Anderen – wenn sie denn existieren würden – hätten sicherlich mit dem ihnen widerfahrenen Wissen geredet, hätten einfach nicht schweigen können, denn die Lösung