„So ist Luc nie gewesen.“ Woher kam die plötzliche Heiserkeit?
„Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, weiter über den verlorenen Sohn zu sprechen.“ Wie viel Abscheu aus seinen Worten sprach.
„Kommt … kommt er allein zurück? Oder ist sie bei ihm?“ Louis schaute sie an, als wüsste er nichts mit ihrer Aussage anzufangen. Im selben Moment formte sich ein Gedanke in Henriette. „Großmutter hat gelogen, nicht wahr? Es gab nie eine Frau, derentwegen Luc bei Nacht und Nebel fort ist. Was ist der wahre Grund gewesen?“
„Lass uns ein anderes Mal weiterreden. Ich muss aufbrechen. Adieu, Henriette. “ Er eilte an ihr vorbei zu den Stallungen. Wütend blickte sie ihm nach. Im Wissen, dass ihre Familie ein Geheimnis hütete. Doch sie würde dahinterkommen. Früher oder später.
Die Nacht brachte Regen mit sich, der monoton gegen die Fensterscheiben prasselte. Manchmal erhellte sich die Dunkelheit, weil sich in der Ferne ein Gewitter entlud. Dann und wann war ein leises Beben zu hören. Dafür schrie ein Kauz umso lauter. Sein Ruf klang nahe, als würde er in einem der Bäume vor dem Schlafzimmerfenster sitzen, deren Äste gegen die Scheiben klopften.
Doch nicht nur deswegen konnte Henriette nicht schlafen. Luc ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Seit dem Gespräch mit Louis hatte sie pausenlos an ihn gedacht und sich ihr Wiedersehen ausgemalt. Ob er sich sehr verändert hatte? Und wie würde er sich ihr gegenüber verhalten? Wie ein Fremder? Oder würden sie wieder zueinanderfinden?
Sie zog das Laken höher und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Es war klein, nur mit dem Notdürftigsten ausgestattet. Bewusst hatte sie diesen Raum gewählt, der eher einer Abstellkammer glich. Es gab weder ein Nachtkästchen noch große Schränke, um ihr Gepäck zu verstauen. Darum lebte sie aus Truhen. Es wirkte, als wäre sie auf der Durchreise. Trotzdem fand sie es gemütlich, weil sie kleine Räume lieber mochte als große. Allerdings war es seit heute Morgen etwas beengter, da die Mutter eine hüfthohe Kommode hereinstellen lassen hatte. Sie stand an der gegenüberliegenden Wandseite und sollte für etwas mehr Ordnung in dem Chaos sorgen, weil sogar die Waschschüssel bisher auf dem Boden gestanden hatte. Nun reihten sich wahllos Kämme, Seifen, die Schüssel und anderes Behelf auf der Kommode. Mitsamt dem Parfüm, das sie aus der Schatztruhe genommen hatte. Ewig konnte sie den buntschillernden Flakon nicht aufbewahren und benutzte ihn daher seit einigen Tagen. Der Duft war leicht und frisch, mit einer süßen Note. Wie eine blühende Sommerwiese, in der Wildrosen wuchsen.
Henriette gähnte und drehte sich mit dem Rücken zur Wand. Sie schlief niemals umgekehrt, da ihr die Vorstellung, jemand könnte hinter ihr stehen, den Schlaf raubte. So viel dazu, dass sie erwachsen war! Louis hatte sich immer prächtig darüber amüsiert, aber sie konnte eben nicht aus ihrer Haut. Luc hingegen war da anders gewesen …
Nein, sie wollte nicht schon wieder an ihn denken und lauschte auf die Geräusche im Haus. Kleine Schritte tapsten an ihrem Zimmer vorbei, gefolgt von festeren. Dianas gedämpfte Stimme drang mahnend durch die Tür. Antoine war ein fröhlicher und aufgeweckter Junge, über dessen Schuhe man ständig stolperte, weil er sie überall liegen ließ. In letzter Zeit stand er oft mitten in der Nacht auf und lief durch das Haus. Es kostete Diana viel Geduld, ihn wieder ins Bett zu bringen. Auch jetzt hörte man ihr Schimpfen und sein Weinen, bis es irgendwann ruhig wurde.
Grübelnd starrte sie zur milchig–weißen Kerze auf dem Fenstersims und nagte an ihrer Unterlippe. Dabei dachte sie an den Herzog. Daran, wie ihre Zukunft aussehen würde. Natürlich fühlte sie sich der Familie gegenüber verpflichtet. Immerhin hatte sie bisher ein sorgloses Leben geführt. Doch das war nicht Lottis Verdienst, sondern der ihres Vaters, der mit Aktien ein Vermögen gemacht hatte. Wieso sollte sie deshalb auslöffeln, was ihnen die Großmutter eingebrockt hatte und das auch noch zu einem Preis, der nicht höher sein konnte?
Neuerlich näherten sich Schritte. Henriette drehte sich auf den Rücken und schaute zur Tür. Leise klopfte es. „Komm herein, Maman.“
Wie erwartet trat sie ein. „Du solltest längst schlafen, Kind. Es ist schon spät.“
Henriette rückte ein Stück nach hinten, um der Mutter Platz zu machen. „Das Gleiche könnte ich zu dir sagen. Du siehst in letzter Zeit ohnehin ständig müde aus. Schläfst du schlecht?“ Ob sie das Thema wegen den Schulden anschneiden sollte? Oder über Lucs Rückkehr?
„Die Sorgen halten mich wach“, gab die Mutter zu und ließ sich auf die Bettkante nieder. „Und der Sommerball steht vor der Tür.“
„Weshalb tut ihr euch das Jahr für Jahr an, Maman? Besonders du? Françoise lässt keine Gelegenheit aus, um dich zu kränken. Sogar wegen den Narben diffamiert sie dich.“ In Gegenwart dieser Hexe rissen die Wunden ihrer Mutter buchstäblich neu auf.
„Ich mache es Lotti zuliebe. Unser Sommerball ist deiner Großmutter wichtig.“
Henriette setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. „Das mag sein, aber ihre Schwester ist es nicht. Sie muss Françoise nicht einladen.“
„Deine Großtante zu übergehen wäre ein Affront. Du kennst ihren Einfluss. Wir hätten das gesamte Haus Orléans gegen uns. Davon abgesehen hege ich nach wie vor die Hoffnung, dass sich die beiden doch versöhnen und damit aufhören, sich zu bekriegen.“ Ihre Mutter faltete die feingliedrigen Hände im Schoß. Auch auf den Handrücken war sie von Narben gezeichnet, die aussahen wie Schwellungen von Mückenstichen. „Ich dachte, dass die Heirat zwischen Louis und Diana der erste Schritt wäre, um unsere Häuser auszusöhnen. Ohne zu ahnen, dass dadurch alles noch schlimmer werden würde. Leider war mir nicht klar, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen Diana und ihrer Mutter ist.“
„Louis hat etwas Ähnliches angedeutet, aber mich wundert das nicht wirklich. Wer versteht sich schon mit Françoise? Und wenn ich an den Vater denke …“
„Ja, mir wird auch ganz anders, dass man ihn oft als liebevollen Vater schildert“, entschlüpfte es der Mutter, die aussah, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Aber was soll’s. Mein Bemühen um ein besseres Verhältnis zwischen den Familien mag fehlgeschlagen sein, dennoch bereue ich nichts. Diana war die beste Wahl für Louis, ich schätze sie sehr. Am meisten freut es mich jedoch, dass sich dein Bruder durch sie zu seinem Vorteil verändert hat.“
Henriette zog sich die Decke enger um den Körper. „Stimmt“, tat sie überzeugter als sie war. „Früher hätte er sich vermutlich wenig um Lottis Schulden geschert.“
„Du weißt davon?“ Sie runzelte die Stirn.
„Louis war so frei.“ Groll kam wieder in ihr hoch. Ja, verdammt, sie bemitleidete sich selbst, weil ihr die Aufgabe zugedacht wurde, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.
„Ich bin froh, dass ich auf deinen Bruder zählen kann. Es gibt sicher einen Ausweg aus der Misere.“
„Habt ihr den nicht längst gefunden? Insofern musst du nicht um den heißen Brei herumreden. Ich soll heiraten und zwar möglichst reich“, verschaffte sich Henriette Luft. „Ist nur zu hoffen, dass Lotti danach nicht weitermacht wie zuvor. Eine Chance wie diese bietet sich nicht mehr. Es sei denn, Luc würde ebenfalls gewinnbringend heiraten. Was allerdings schwierig sein könnte, da er ja dieses Mädchen liebt, mit dem ihr nicht einverstanden seid. Ist sie euch zu arm?“
„Weder noch, aber dein Bruder ist hier nicht das Thema.“
Wie sie diese Geheimnisse satt hatte! „Richtig. Das bin ja ich.“
„Ich kann verstehen, dass dir nicht wohl ist, demnächst heiraten zu müssen. Aber jetzt sollten wir zusammenhalten, denn die Fehde zwischen Mutter und Françoise ist auch finanziell ein Desaster. Bei jeder Gelegenheit kommt uns Lottis Schwester zuvor und wir schauen durch die Finger. Wenn es uns gelingt, den Streit beizulegen, wird es erheblich einfacher für uns alle.“
„Du willst zwei der mächtigsten Herrscherhäuser unserer Zeit versöhnen, doch ich befürchte, dass das nie geschehen wird. Auch Luc meinte vor seinem Verschwinden, dass diese Sache nur der Tod beenden könnte.“ Henriette schaute sie abwartend an. Wieder hatte sie ihren Bruder erwähnt.