Genau zwanzig Minuten, nicht eine Minute länger, schafften sie es, sich mit dem Fall zu beschäftigen. Dann sah Karla ihren Kollegen Reinhard Köhler durch das Glasfenster, wie er zuerst aufgeregt am Telefon gestikulierte und dann schnellen Schrittes, ohne anzuklopfen in ihr Büro stürmte. „Wir haben die nächste Leiche.”, er klang etwas außer Atem. „Eine Rentnerin, 68 Jahre alt, liegt schon seit einigen Tagen tot in ihrer Wohnung in der Rosenstraße. Wahrscheinlich erdrosselt! Der Hausmeister hat sie gefunden.” Oh nein, nicht das noch, dachte Karla und schaute zur Seite auf Zacharias Weinfeld. Aber der hatte sich schon seine Anzugjacke geschnappt und war aufgesprungen. „Dann los.”, sagte er nur und war schon aus dem Büro, als Karla reagierte, ihre Tasche nahm und hinter ihm her durch das Treppenhaus lief. Er war so schnell, dass sie ihm kaum folgen konnte.
Kapitel 7
Als Karla auf dem Hof der Polizeidienststelle ankam, stand Zacharias Weinfeld schon auf der Beifahrerseite ihres Dienstwagens und wartete auf sie. Na, der scheint sich ja hier wie zu Hause zu fühlen, dachte sie und schloss auf.
Die Fahrt bis zur Rosenstraße dauerte nur eine Viertelstunde. Während der Fahrt schaute Karla Albrecht immer wieder rüber zu ihrem neuen Kollegen. „Na, haben Sie schon ein Quartier für die nächsten Tage gefunden? Wir können Ihnen da gerne behilflich sein.”, Sie hatte völlig vergessen, sich darum zu kümmern.
„Nein, nein, schon gut. Ich habe mir bereits von zu Hause aus ein Zimmer in einer kleinen Pension ganz in der Nähe gebucht. Meine Koffer sind auch bereits da.”, sagte er zum Glück und schaute wieder in sein Notizbuch.
Koffer, dachte Karla, er hatte mehrere Koffer mitgebracht? Wie lange gedenkt er zu bleiben. „Sie haben hier wohl nicht oft mit Gewaltverbrechen zu tun?”, unterbrach er ihre Gedanken. „Nein, Gott sei Dank nicht. Ein paar unbekannte Todesursachen, die sich dann aber bei näherer Untersuchung geklärt haben. Das einzige Verbrechen, das wir hier in der letzten Zeit hatten, stammt aus den Anfängen der neunziger Jahre. Damals wurde zunächst in einem Waldstück ein Schädelknochen gefunden, später dann noch andere menschliche Knochen. Die Knochen wurden einem jungen Mann zugeordnet, der seit 1990 vermisst war. Die Obduktion ergab, dass er erschlagen wurde. Diese Mord Akte haben wir bis heute in unserem Archiv. Der Fall ist unaufgeklärt. Wir hatten damals auch Hilfe von der Mordkommission, Herr Wälter, ein Kollege von Ihnen, der schon in Pension ist.” Karla schaute zur Seite. Herr Weinfeld hatte aufmerksam zugehört, gab aber nicht zu erkennen, ob er den Kollegen kannte.
Mittlerweile waren sie bei der Nummer sieben in der Rosenstraße angekommen. Ein altes Mietshaus aus den fünfziger Jahren. Vor dem Haus standen die Autos der Spurensicherung und der Gerichtmedizin. Die beiden Kommissare bahnten sich ein Weg durch die, trotz des frühen Morgens, schon zahlreichen schaulustigen Nachbarn.
Ein Polizist in Uniform hielt ihnen die Haustür auf: „Zweiter Stock, links!”, sagte er nur, und man konnte ihm ansehen, dass er aufgrund des Geruchs, der bereits durch das Treppenhaus strömte, froh war, dass ihm der Posten auf der Straße zugeteilt worden war. Karla legte schon auf der ersten Treppenstufe ihren Mundschutz an. Sie wunderte sich immer wieder, wie es passieren konnte, dass tote Menschen so lange unbemerkt in ihren Wohnungen lagen. Dieser Gestank musste doch auffallen! Oben angekommen stellten sie fest, dass die Spurensicherung noch bei ihrer Arbeit war. Auch der Gerichtsmediziner, ein noch recht junger Mann namens Doktor Gruß saß auf der Treppe und wartete geduldig auf seinen Einsatz. Karla und Zacharias Weinfeld nutzten die Gelegenheit, sich in ihre weißen Schutzanzüge zu zwängen. Wobei Zwängen nur für Karla galt. Etwas neidisch beobachtete sie ihren neuen Kollegen, der offensichtlich nicht mit einigen überflüssigen Kilos zu kämpfen hatte wie sie selbst, und sich lässig und routiniert den weißen Anzug überstreifte, als machte er das jeden Tag.
Als sie grünes Licht von der Spurensicherung bekamen, gingen sie rein.
Der Gestank war unbeschreiblich!
Überall Fliegen! Die Fenster waren geschlossen. Einer der Männer von der Spurensicherung kam auf sie zu: „Die Frau heißt Carola Schmidt, Anfang sechzig, sie lebte alleine in der Wohnung. Sie liegt dort drüben im Wohnzimmer, kein schöner Anblick.” Karla ging zögernd voran, und bei jedem Schritt in Richtung der Leiche wurde der Gestank schlimmer. Nun konnte sie die Frau sehen. So sollte niemand sterben, dachte sie, während sie sich zwang, die Leiche der alten Frau genau zu betrachten. Der tote Körper von Carola Schmidt war nach unten in den großen Fernsehsessel gerutscht. Ihre blondierten Haare, die mit grauen Strähnen durchzogen waren klebten an ihrem Kopf und bildeten einen bizarren Kontrast zu ihrer bläulich-schwarzen, mit Leichenflecken überzogenen Haut.
Überall am Körper konnte man bereits die beginnende Verwesung beobachten. Dr. Gruß hockte vor dem Fernsehstuhl und untersuchte die Frau. „Sie muss mindestens eine Woche hier gelegen haben! Deutliche Madenbildung!” Er schaute zu Karla hoch. „In der Wohnung waren es so um die 28 Grad Raumtemperatur. Alte Leute haben es ja gerne warm. Aber genaueres erst nach der Obduktion. Wie immer!“ „Was denken Sie über die Todesursache? Ist sie erdrosselt worden?” Karla zeigte auf den Schal, der um den Hals der Toten gewickelt war. Ein langer, breiter Schal in modischen Farben, wie ihn Jugendliche in letzter Zeit häufig trugen. Er passte überhaupt nicht zu der sonst eher biederen Kleidung des Opfers.
Sie sah sich um. Auch sonst sah in der kleinen Zweizimmerwohnung alles alt und funktionell aus, so als würden Decken, Gardinen und die ganzen Nippessachen, die auf den Schränken standen aus einer längst vergangenen Zeit stammen. Carola Schmidt hatte in den letzten Jahren wohl eher nicht viel Geld zur Verfügung gehabt. „Ja, ich denke, sie ist mit diesem Schal erdrosselt worden. Und wie gesagt, wir müssen die Ergebnisse der Obduktion abwarten, Sie kennen das ja.”, antwortete er ungeduldig.
Karla ging hinaus auf den Flur zu ihrem Kollegen Weinfeld, der gerade den Hausmeister befragte, der Carola Schmidt gefunden hatte. Dem älteren Mann floss vor lauter Aufregung der Schweiß in Strömen von der Stirn und er sprach mit gequälter Stimme durch den Mundschutz, den ihm irgendjemand gegeben hatte. „Die Frau Nolte hat bei mir geklingelt. Ich wohne im Nachbarhaus. Parterre. Frau Nolte ist so eine Art Freundin von Frau Schmidt. Viele Kontakte hatte sie ja nicht, wollte sie auch nicht, wenn Sie mich fragen. Na, ja, jedenfalls wollte die Frau Nolte sie abholen zu ihrem all wöchentlichen Kaffeeklatsch, den sie wohl mit ein paar älteren Damen veranstalten. Sie war ganz aufgeregt. Frau Schmidt hatte sich wohl schon einige Tage nicht mehr gemeldet und ist nicht mehr ans Telefon gegangen. Sie hat mich gebeten, mal nachzuschauen, weil ich doch den Schlüssel habe. Zuerst wollte ich gar nicht. Die Frau Schmidt, ja, man soll ja nicht schlecht über Tote reden!” Zacharias Weinfeld ermutigte ihn: „Nur zu! Ihre Aussage ist eine sehr wertvolle Hilfe für uns. Sagen Sie uns, was dann geschehen ist!”
„Ja wissen Sie, ich habe gesagt, dass ich keinen Ärger mit der Frau Schmidt haben will. Die konnte verdammt frech werden, wegen jeder Kleinigkeit. Immer hat sie was gefunden, was in ihren Augen nicht richtig war. Aber schließlich bin ich doch mitgegangen, die Frau Nolte hat ja nicht locker gelassen. Ich kann Ihnen sagen, der Gestank, als ich die Wohnungstür aufschloss! Die Frau Nolte habe ich gleich raus geschoben aus der Wohnung. Ich ahnte ja schon, was ich finden würde. Aber das es so schlimm ist. Ich hab natürlich sofort die Polizei angerufen. Die Frau Nolte hab ich nach Hause geschickt, so fertig war die. Brauchen Sie mich noch? Mir ist es wirklich schlecht. Für Sie mag das ja tägliche Arbeit sein, aber ich fühle mich gerade wie in einem Albtraum!” Karla und Herr Weinfeld hatten nichts dagegen, dass sich der arme Mann in seine Wohnung zurückzog.
Mittlerweile hatte die Spurensicherung und Dr. Gruß ihre Arbeiten abgeschlossen. Karla warf einen letzten Blick auf die Leiche der alten Frau. Durch die beginnende Verwesung traten die Augäpfel nach vorne und gaben dem Antlitz der Frau einen grauenhaften Eindruck. Maden waren zu sehen. Diese verdammten Viecher krabbelten zuerst in die Körperöffnungen. Karla kämpfte gegen ihre Übelkeit an und versuchte sich zu konzentrieren.
Der Mörder der Frau musste irgendwie in die Wohnung gelangt sein und sie von hinten erdrosselt haben. Wie lange hatte ihr Todeskampf gedauert, fünf Minuten? Oder länger! Karla erschauderte und riss, nachdem sie sich erkundigt