Das Angstschwitzen!
Es kriecht den Rücken hoch. Unten fängt es an, knapp über dem Po. Dann bewegt es sich langsam aber stetig höher, bis es am Haaransatz angekommen ist. Dort bleibt es sitzen. Kein nasser Waschlappen, kein tiefes Durchatmen, kein Zählen irgendwelcher Dinge um sich abzulenken bekommt es da wieder weg. Es gibt auch noch die andere Angst, die Schockangst. Die so plötzlich über einen kommt, dass der Körper keine Zeit hat, auf die Schnelle die Schweißattacken zu bilden. Dann fühlte sich die gesamte Haut an, als wäre sie von tausenden Nadelstichen befallen, die sich alle gleichzeitig erbarmunsgslos einbrennen.
Nur für Sekunden. Danach erfolgte eine Art Lähmung, die es einem unmöglich machte, zu handeln. Man glaubte, nicht mehr richtig atmen zu können, als würde man gleich unweigerlich ersticken. Rosemarie kannte alle Formen der Angst. Es gab Dinge, die sie auslösten. Blicke wie Eis, Worte wie Pfeile, Gesten der Demütigung und das Umdrehen des Schlüssels in der Wohnungstür, wenn er heimkommt.
Wenn es nicht so wehtun würde hätte sie beinahe gelacht bei dem Wort „Heim”.
Kapitel 3
Die Uhr zeigte 5 Minuten vor Acht, als Karla Albrecht an diesem Morgen zu ihrem Arbeitsplatz kam. Das Gebäude der Polizei lag am Ende der kleinen Fußgängerzone. Eine alt ehrwürdige Immobilie aus den 20iger Jahren. Zigmal renoviert hatte es einen sehr eigenen Charme, da aus jedem Jahrzehnt etwas dazugekommen war. Karla schimpfte leise vor sich hin, als sie bemerkte, dass einige der ohnehin schon wenigen Angestelltenparkplätze durch eine Baustelle blockiert waren.
Die war doch gestern noch nicht da! Wahrscheinlich wieder irgendein Rohrbruch oder ähnliches. Sie war jetzt 20 Jahre bei der Truppe und hatte sich inzwischen zwar schon an die ewigen Bau- und Renovierungsmaßnahmen gewöhnt, aber wenn sie morgens keinen Parkplatz fand, konnte sich ihre Laune doch schon mal nach unten bewegen. Gott sei Dank konnte sie mit ihrem kleinen Auto in einer Minilücke parken. Sie quetschte sich durch den schmalen Platz, den sie noch zum Aussteigen zu Verfügung hatte und schloss ab. Die Kühle des Morgens tat gut nach der Hitze der letzten Tage. So langsam konnte man den herannahenden Herbst erahnen und Karla war froh darüber. Dieses Herumwälzen und Wachliegen in verschwitzen Laken hatte sie satt und die kalte Luft tat den Gedanken gut und machte den Kopf frei. Die vergangene Nacht, oder das von ihr übrig blieb, hatte sie bei Stefan verbracht und er hatte großes Verständnis gezeigt wie immer, hatte keine Fragen gestellt, denn er wusste oder ahnte zumindest die Anstrengungen, die ihr Job bei der Kripo mit sich brachte.
Und doch ertappte sie sich immer öfter bei dem Gedanken, dass seine Bemühungen, sich für ihre Arbeit zu interessieren oft aufgesetzt und ein wenig geheuchelt rüber kamen. Vielleicht war sie auch einfach nur überarbeitet, dachte sie.
Sie war jetzt schon 3 Minuten zu spät dran und hetzte zur Eingangstür. Einer der Arbeiter von der Baustelle pfiff anerkennend hinter ihr her. Karla lächelte gequält. Aber irgendwie freute sie sich auch darüber, schließlich war sie nach dem Vorfall gestern Nacht erst um ein Uhr ins Bett gekommen, und sie fühlte sich schrecklich mit ihren Augenringen und den etwas zerzausten Haaren an diesem Morgen. Also was soll’s, dachte sie sich und lächelte dem Arbeiter mit dem schönst möglichen Lächeln zu, das sie an diesem Morgen aufbringen konnte.
Dann verschwand sie in der Eingangstür und lief die zwei Etagen hoch, wo sich die Räume der Kriminalpolizei befanden. Oben angekommen, atmete sie tief durch und ging, einen Morgengruß murmelnd, an ihren Kollegen vorbei in Richtung Schreibtisch. Ihre Büroecke war durch eine Glaswand und eine Tür von den anderen Büroplätzen abgetrennt. So war sie immer über alles im Bilde, konnte sich aber auch zurückziehen, wenn sie es wollte oder wenn Personen zum Verhör kamen. Verhörräume wie in den Großstädten gab es hier leider nicht.
Am Schreibtisch angekommen knallte sie ihre große Beuteltasche auf den Tisch, zog ihre Jacke aus und ließ sich auf den Schreibtischstuhl plumpsen. Durch die Scheibe konnte sie sehen, wie ihr Kollege Reinhard Köhler demonstrativ auf seine Uhr schaute. Auch er war gestern Nacht erst spät nach Hause gekommen, er schaffte es aber immer wieder trotz solcher Einsätze am nächsten Morgen jugendlich frisch auszusehen. Das lag wahrscheinlich an dem vielen Sport den er so trieb! Karla winkte ihn zu sich herüber. „ Reinhard.”, rief sie. „Gehen wir doch noch einmal die Sache von gestern Abend im Detail durch.” Reinhard Köhler kam forschen Schrittes in ihr Büro und zog sich einen Stuhl an ihren Schreibtisch. Er musterte Karla mit seinen hellgrauen Augen: „Na, ausgeschlafen?“, fragte er und grinste, sodass sich sein rechter Mundwinkel und die linke Augenbraue gleichzeitig hoben, was seinem Gesicht jedes Mal einen seltsamen Ausdruck verlieh. Karla hatte mal mit einigen Kollegen auf einer bierseligen Weihnachtsfeier versucht das nachzuahmen. Es war ihnen nicht gelungen. Sie winkte ab: „Frag nicht, lass uns arbeiten!“
Gemeinsam studierten sie die Unterlagen des Unfalls, der sich gestern Abend gegen 19.00 Uhr auf einer Landstraße rund 4 km von hier ereignet hatte. Der Notruf kam so gegen 19.15 bei der hiesigen Polizeiwache an.
Eine ältere Dame hatte aufgeregt in den Hörer gerufen, dass sie einen Toten gefunden hatte. In ihrer Aufregung und ihrem Schock hatte sie sich zunächst endlos darüber ausgelassen, von wo sie kam, dass sie mit ihren Hunden im Wald spazieren war, wo doch so schönes Wetter war, wo sie nun hinwollte und das ihr Mann zu Hause wartete, usw. Der Beamter in der Notrufzentrale hatte mit einer geschulten Geduld immer wieder auf sie eingeredet, dass sie sich doch beruhigen möge und genau sagen soll, wer sie ist, wo sie ist und wen sie denn gefunden hatte. Sie hieß Irene Müller war 78 Jahre alt, wohnte in einem benachbarten Dorf und hatte auf der Rückfahrt mit ihrem Auto plötzlich mitten auf der Fahrbahn kurz hinter ein paar Kurven einen Mercedes stehen sehen. Um ein Haar wäre sie aufgefahren, sie konnte im letzten Moment bremsen und kam hinter dem Wagen zu stehen. Sie dachte noch, wer ist so blöd, die Unfallstelle nicht abzusichern in einer solch kurvenreichen Strecke. Irene Müller überlegte nicht lange, fuhr ihren alten Toyota rechts ran, schaltete die Warnblinkanlage an und stieg aus. Ihre zwei Schäferhunde hinten im Auto spürten wohl, dass etwas nicht in Ordnung war und krochen hinten auf dem Rücksitz an die Scheibe und begannen lauthals zu bellen. Sie sah jetzt, da sie von hinten an den Mercedes heranging, dass am Steuer des Wagens jemand zusammengekrümmt saß.
Unruhe machte sich in ihr breit und ihr Herz begann bis zum Hals zu hämmern. Sie blieb stehen. Was mach ich jetzt, überlegte sie noch, während sie zögernd zu dem Wagen ging. Soll ich zuerst meinen Verbandskoffer aus dem Auto holen? Und was erwartet mich? Liegt dort jemand blutüberströmt und schwer verletzt? Oder hatte dieser jemand vielleicht einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, röchelt vielleicht, stöhnt um Hilfe?
Sie merkte, dass sie flüsternd mit sich selbst sprach. Hunderte Gedanken schossen ihr in Sekundenschnelle durch den Kopf, während ihre beiden Hunde, die ihre Anspannung sicherlich bemerkten, pausenlos, mittlerweile fast hysterisch, bellten.
Langsam mit fast bedächtigen Schritten bewegte sie sich um das Auto herum. „Hallo?”, rief sie. „Hallo, sind Sie verletzt? Kann ich Ihnen helfen? Hallo!” Das Rufen half ihr, sich ein wenig zu beruhigen, so wie bei einem Kind, das laut ruft und lärmt, wenn es einen dunklen unheimlichen Keller betritt. Nun sah sie den Mann.
Er war extrem dick. Das fiel ihr komischerweise zuerst auf. Und er war definitiv tot.
Starke Kopfschmerzen setzten schlagartig ein und das Bellen ihrer Hunde wurde plötzlich zu einem alles über tönendem Geräusch. Sie überwand sich, den Mann, der seitlich etwas zusammen gesackt hinter dem Lenkrad