Finisterre. Claus Karst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus Karst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738062977
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      „Meinst du mit ‚Zeit nutzen‘ etwa Sex rund um die Uhr?“, unterbrach sie Pascal, ohne eine Antwort zu erwarten, lehnte sich auf dem Sofa zurück und schwenkte das Glas in seiner Hand. „Etwas anderes können wir hier nämlich kaum unternehmen.“

      Ihm war durchaus klar, dass er besser geschwiegen hätte, aber er fühlte sich inzwischen so angespannt und unwohl an diesem Ort, dass er alle Harmoniegesetze ihrer Ehe missachtete.

      Als der Streit seinem Höhepunkt zustrebte, hievte sich Leonie abrupt aus dem Sessel und verschwand im Bad. Sie blieb so lange fort und es war so ruhig, dass Pascal gerade beschlossen hatte, nach ihr zu sehen, als sie zurückkam. Sie schwebte in einem Negligé, das mehr von ihrer Schönheit offenbarte als verbarg, ins Zimmer, als ob ihr Flügel gewachsen wären. Dazu sang sie mit einer glockenhellen Sopranstimme, engelsgleich, ein Lied in einer selbst ersonnenen Sprache, die nur die Geister in ihrem schönen Kopf verstehen konnten.

      Verwundert blickte Pascal auf Leonies Glas. Sie hatte den Wein nicht angerührt, sie musste vollkommen nüchtern sein. Und dann das?

      Nachdem sie sich noch ein paar Mal vor ihm auf den Fußspitzen wie eine Primaballerina in Kreis gedreht hatte, blieb sie vor ihm stehen und streckte sich verführerisch.

      Ihr Auftritt, so absurd und ungewöhnlich er Pascal auch vorkam, verbannte allen Ärger. Er hatte schon lange Zeit nicht mehr erlebt, dass sie für ihn sang und ihn damit in ihre Welt mitnahm.

      Ohne sich zu rühren, starrte er sie hingerissen an. Sie war nach wie vor seine Traumfrau – trotz ihrer gelegentlichen Marotten. Er stand auf, ging zu ihr und führte sie zum Bett. Sie liebten sich lange, wild und voller Leidenschaft. Pascal konnte sich jedoch des Gefühls nicht erwehren, dass Leonie trotz ihrer Begierde, Hingabe und Sinnlichkeit mit ihren Gedanken nicht bei ihm war.

      Was war nur mit ihr los? Sah er etwa Gespenster oder bildete er sie sich ein? Leonies Verhalten belastete ihn mehr, als ihm lieb war. Er hoffte, in den nächsten Tagen in der Einsamkeit dieser Bergwelt herauszufinden, was vor sich ging.

      Kapitel 4

      Schweißgebadet fuhr Pascal am nächsten Morgen aus dem Schlaf hoch.

      Ein feindseliger Albtraum war in die Tiefen seines Unterbewusstseins gedrungen. Uniformierte mit Hahnenköpfen, bis an die Zähne bewaffnet, hatten ihn heimgesucht und ihm zugesetzt, ihm, dem glühenden Pazifisten, dem jede Uniform zuwider war. Noch völlig im Bann der nächtlichen Schimären, reckte er sich, versuchte, die Bilder abzuschütteln und sich zu orientieren. Er tappte nach seiner Brille, ohne die er sich nur schlecht zurechtfand, besonders morgens, wenn sich sein Blutdruck noch im Standby-Modus der Nacht befand, erst hochgefahren werden musste. Seine verschleierten Augen zeigten ihm an, dass er sich in einem Hotelzimmer befand.

      Nur langsam kehrten seine Erinnerungen zurück: der Opernabend, die schreckliche Fahrt hinauf in dieses Hochland am Ende der Welt, die bedrückende Bergwelt ringsum, der gestrige Abend, den er in Rotwein hatte ertränken wollen, die stürmische, leidenschaftliche Nacht.

      War es wirklich so gewesen oder hatte er all das nur geträumt? Allmählich lichtete sich der Nebel in seinem Kopf. Verdammt, was hatte Leonie sich nur dabei gedacht, ein Hotel in diesem gottverlassenen Kaff zu buchen? Er nahm sich vor, sie zu überreden, ein anderes Ziel anzusteuern, das ihm mehr zusagen würde. Das Thema ließ sich vielleicht beim Frühstück besprechen.

      Auf den ersten Blick bestand das Dorf, so hatte er bei der Ankunft und dem Spaziergang festgestellt, aus nicht einmal fünfzig Gebäuden, die zum Teil auf den Hängen wie Farbkleckse verteilt waren. Immerhin befanden sich darunter ein Kaufladen, der alle wichtigen und unwichtigen Dinge des Lebens feilbot, eine Kirche mitsamt einem Friedhof und eine Gendarmeriestation. Von Kultur keine Spur. Das Hotel passte indes kaum zu den vergleichsweise ärmlichen Gebäuden des Ortes. Es erweckte den Eindruck biederer Wohlhabenheit.

      Wann waren sie zu Hause losgefahren? Sollte das wirklich erst vorgestern gewesen sein? Unterwegs hatte Leonie sich hinter die Mauer einer Migräne zurückgezogen. Warum? Hatten ihre mystischen Extreme wieder von ihr Besitz genommen? Mit dieser, er nannte sie, Sucht hatte er sich noch nie anfreunden können, sie jedoch aus Liebe zu ihr geduldet. Manchmal war sie ziemlich überspannt, wenngleich ihre Auftritte, wie gestern Nacht, ihn immer wieder zu fesseln vermochten. Pascal war eher von bodenständiger Natur, ein Stiergeborener, Leonie eine Träumerin. Ihre Traumwelt hielt sie in der Regel verschlossen, selbst ihm gegenüber. Gestern hatte sie eine der seltenen Ausnahmen gemacht, ihm die Tür ein Stückchen weit geöffnet in die Welt, in die sie immer wieder abtauchte.

      Sei vernünftig!, mahnte er sich. Es war wunderbar in der vergangenen Nacht. Gib jetzt Ruhe und mach nicht alles kaputt mit deinem ewigen kritischen Hinterfragen! Schlaftrunken tastete er mit seiner Hand hinüber in das Bett zu seiner Rechten und griff unter die Decke. Zu seiner Überraschung fand er keine Bettwärme vor. So sehr seine Hand auch suchte, sie stieß nur auf weiches Daunenbettzeug. Von Leonie keine Spur.

      Verwirrt reckte er sich ausgiebig. Seine steifen Gelenke knackten hörbar. Schließlich quälte er sich aus dem Bett. Er ging zum Fenster und öffnete es weit, um der frischen Morgenluft Einlass zu gewähren – ins Zimmer und in seine Lungen. Hinter der gegenüberliegenden Bergkette stieg eine fahle Morgensonne empor und verbreitete ein trübes Licht, das dennoch in seinen Augen schmerzte. Wie viel Wein hatte er getrunken?

      Verschwommen erblickte er auf einer nahen Weide eine Herde Kühe, die wiederkäuend vor sich hin dösten. Einige schauten neugierig zu ihm empor, als sei er ein exotisches Wesen, dessen Anwesenheit ihren langweiligen Alltag bereicherte. Schienen sie den Anblick von Touristen etwa gar nicht gewohnt zu sein? Pascal schüttelte sich. Er wandte sich um, sah die Tür zum Bad angelehnt und rief fragend: „Leonie?“

      Keine Antwort. Noch einmal rief er, dieses Mal etwas lauter. Erneut keine Antwort. Er schlurfte zum Bad hinüber und stieß die Tür auf. Nichts von Leonie zu sehen! Als er verwundert im Begriff war, das Bad zu verlassen, fiel ihm eine offensichtlich hastig geschriebene Notiz in der Handschrift seiner Frau ins Auge:

       Ich konnte nicht mehr schlafen und mache einen Morgenspaziergang, um den Sonnenaufgang in den Bergen zu bewundern. Bis später, mein Prinz. Tut mir leid wegen gestern Abend, ich meine unseren Streit. Unsere Versöhnung hat mir aber sehr gefallen. Du warst klasse! Den Wein solltest Du von nun an immer dabei trinken. Kuss, L.

      „Unser Urlaub fängt ja gut an!“, brummte Pascal. „Schon das erste gemeinsame Frühstück fällt aus, denn warten werde ich nicht. Mein Magen verlangt nach seinem Recht.“

      Er bemerkte, dass Leonies sündhaft teures Seidennegligé, das sie in verführerischer Absicht erstanden hatte, um seine Begierde zu wecken, auf dem Rand der Badewanne lag. Ihr Jogginganzug fehlte dagegen.

      Pascal nahm ein ausgiebiges Duschbad, putzte sich die Zähne, rasierte sich, zog Jeans an, streifte einen leichten Pullover über und stieg die Treppe hinunter. Er versuchte, Leonie per Handy zu erreichen, erhielt jedoch keine Netzverbindung. Kann wohl vorkommen, erahnte er die schwierige Empfangssituation im Gebirge.

      Hinter der Theke des Empfangs saß, in Papieren blätternd, der Wirt, den ein kleines Holzschild als Lorenz Bruckner auswies. Aus trüben Augen blickte er Pascal entgegen, als er die Treppe herunterkam.

      „Guten Morgen“, grüßte Pascal höflich.

      „Grüß Gott“, erwiderte der Wirt knurrend. Er hatte offensichtlich eine lange Nacht hinter sich, von der eine unangenehme Alkoholfahne verblieben war.

      „Haben Sie zufällig meine Frau gesehen?“

      „Nein, ich bin gerade erst gekommen“, brummte Bruckner. Er machte nicht den Eindruck, den Wünschen seiner Gäste das geringste Interesse entgegenzubringen.

      Wie Pascal erst jetzt bemerkte, zog dieses vierschrötige Mannsbild ein Bein nach, als Bruckner sich von seinem Stuhl erhob, um in einem Regal etwas zu suchen.

      Pascal schaute sich um, entdeckte ein hölzernes Türschild mit der Aufschrift Frühstücksraum und betrat ihn in der Erwartung, hier vielleicht auf