Leonie erschrak. Das hatte Pascal nicht verdient, dass sie so geistesabwesend war. „Seine Stimme ist gut“, versuchte sie sich auf den Small Talk zu konzentrieren. „Irgendwie sehr erotisch, finde ich. Er verkörpert die Rolle, als hätte Wagner sie für ihn geschrieben.“
„Höre ich da ein Aber?“
Leonie überlegte einen Moment, wie sie sich ausdrücken sollte, bevor sie den Satz vollendete: „Aber er ist mir irgendwie …“, sie zögerte unsicher, „unheimlich.“
„Unheimlich? Geht die Fantasie mal wieder mit meiner schönen Frau durch? Die Rolle an sich ist unheimlich, zumindest in den Augen von Seeleuten.“
Leonie ließ die Frage offen, der Gong rief sie zurück auf ihre Plätze.
Im zweiten Akt, der eine Spinnstube zeigte, hing ein überdimensional großes Bild des Holländers an der Wand. Der Blick seiner Augen stach ihr mitten ins Herz. Als die Senta in ihrer Auftrittsarie ihre Sehnsucht nach dem Fremden auf dem Gemälde besang, war Leonie, als sei sie es, die all ihr Sehnen, all ihr Verlangen, all die Sinnlichkeit, zu der sie fähig war, in verträumten Gesang umsetzte.
Im dritten Satz bescherte Senta, bescherte Leonie in ihrer Fantasie dem Holländer jene Erlösung, deretwegen er viele Jahre das Meer als Schrecken aller Seeleute befahren hatte auf der Suche nach ihr.
Erlösung!
Dieses Wort ging Leonie nicht mehr aus dem Kopf. Suchte sie etwa auch danach wie die Protagonistin? Aber Erlösung wovon? War sie nicht glücklich? Hatte sie nicht einen lieben Mann, Eltern, die sie vergötterten, ein gutes Leben, einen Beruf, der sie ausfüllte? Ihr schien der Kopf zu zerspringen, so sehr quälten sie Fragen, auf die sie keine Antworten fand. Oder war es der geheimnisvolle Fremde, der in ihren Träumen nach Erlösung suchte? Erwartete er ihren Beistand? Warum?
Erst der stürmische Applaus am Ende der Vorstellung riss sie aus ihren Wachträumen. Nach minutenlangen Ovationen gaben ihr beim Aufstehen die Knie nach. Sie hakte sich bei Pascal ein, benötigte Halt.
„Wollen wir noch irgendwo etwas essen gehen?“, hörte sie ihn von weither fragen und bemerkte seinen besorgten Blick. „Du siehst aus, als hättest du großen Hunger.“
„Sei mir nicht böse, aber mir ist nicht danach zumute. Mich hat urplötzlich eine Migräne befallen. Ich fürchte fast, der Abend ist für mich gelaufen.“
„Gut, dann gehen wir zurück ins Hotel und trinken an der Bar noch einen Absacker. Vielleicht können wir dort auch noch einen kleinen Imbiss zu uns nehmen“, schlug Pascal vor. „Etwas essen muss ich noch, mein Magen beschwert sich unüberhörbar über Vernachlässigung.“
Im Hotel angekommen, setzten sie sich an ein Tischchen an der Bar. Pascal bestellte sich einen Whisky und für Leonie einen alkoholarmen Cocktail. Leonie entschied sich, doch noch einen Toast zu nehmen, während Pascal sich ein Pfeffersteak mit Pommes und Salat sowie eine Karaffe Rotwein bestellte.
Nachdem sie gegessen hatten, sagte Leonie: „Pascal, sei mir, bitte, nicht böse, ich möchte mich hinlegen. Du kannst gerne an der Bar bleiben, wenn du magst. Es sitzen noch ein paar attraktive Damen hier, wie dir kaum entgangen sein dürfte.“
„Deine Großzügigkeit weiß ich sehr zu schätzen, aber wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns“, antwortete er. „Ich denke, ich sollte auch ausgeruht sein. Ich gehe mit dir hoch.“
Als Leonie in ihrem hauchfeinem Negligé aus dem Bad kam und sich ins Bett legte, drehte sich Pascal zu ihr um und holte Luft: „Liebes, ich kenne ein ziemlich gutes Mittel gegen Migräne.“
„Bitte, heute nicht“, wehrte sie ab, „wir haben doch noch viele Stunden Gelegenheit in unserem Urlaub.“
Sie küsste ihn eher flüchtig denn zärtlich. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie wieder weit weg war. Verdrossen nahm er ein Magazin zur Hand und las noch einen längeren Artikel, der ihn interessierte.
Leonie hingegen tat, als ob sie eingeschlafen wäre, doch quälten sie Gedanken, die auf sie einstürmten, die einzuordnen ihr nicht gelang. Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Kapitel 3
Am nächsten Morgen erwachte Leonie früh. Ihr Schlaf hatte ihr nur wenig Erholung gebracht. Ein Blick in den Spiegel ließ sie zusammenfahren. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet, ihre Gesichtshaut kam ihr fahl vor, trotz der gesunden Farbe, die ansonsten ihre Haut zierte.
Pascal lag noch im Bett und beobachtete sie heimlich. Ihr Aussehen gefiel ihm gar nicht. War sie plötzlich etwa krank geworden? Als sie von daheim losgefahren waren, schien sie fröhlich und guter Dinge gewesen zu sein wie schon lange nicht mehr, schien sich auf die Zeit des gemeinsamen Losgelöstseins von der täglichen Routine zu freuen.
Er überlegte, wann er ihre Veränderung bemerkt hatte. In der Oper? Was konnte dort passiert sein? Er nahm sich vor, sie danach zu fragen, aber nicht jetzt.
„Geht es dir besser heute Morgen, mein Schatz?“, erkundigte er sich fürsorglich.
„Ich denke, nach einer ausgiebigen Dusche und einem kleinen Frühstück wird es mir besser gehen. Die Kopfschmerzen sind auf dem Weg, sich zu verziehen.“
Sie kam herüber zu ihm ans Bett, beugte sich hinunter, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Schnell schlüpfte sie ins Bad, ehe er nach ihr greifen konnte.
Bald darauf hörte Pascal das Wasser in der Dusche rauschen. Er suchte und fand seine Brille. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es noch früh war. Er schälte sich ebenfalls aus den Bettlaken, zog seinen Jogginganzug an und rief ins Bad: „Lass dir Zeit! Ich jogge eine Runde. Wir sitzen heute noch lange genug im Auto, fürchte ich. Das Frühstück schmeckt mir danach auch besser.“
„Mach das, bis gleich“, rief sie zurück. „Pass auf, dass du nicht stolperst und dir ein Bein brichst.“
Wie kommt sie nur auf diese Idee?, fragte er sich und lief los. Er hatte bei der Ankunft am Tag zuvor gesehen, dass vom Hotel aus eine Rundstrecke markiert war. Das Laufen im Wald tat ihm gut und pumpte Sauerstoff in seine Lunge. Er genoss die körperliche Anstrengung. Sie verdrängte die Gedanken, die er sich um Leonie und ihr Verhalten machte. Sie hatten sich schließlich vorgenommen, die Urlaubstage zu einer Auffrischung ihrer Beziehung zu nutzen. Doch heute Morgen schien es ihm fast, als wäre sie froh, wenn er sie in Ruhe ließe. Konnte das alles nur an ihrer Migräne liegen? Oder lagen noch andere Gründe vor? Pascal schüttelte den Kopf und beschleunigte seinen Schritt. Das Laufen war genau das, was er brauchte, um auf andere Gedanken zu kommen.
Nachdem Leonie sich abgetrocknet und eingecremt hatte, fühlte sie sich zwar besser, doch ihr Spiegelbild behagte ihr nach wie vor nicht. Es muss doch nicht jeder sehen, was in mir vorgeht, sagte sie sich und hellte ihre Augenränder mit Schminke auf. Auf ihre Wangen legte sie ein wenig Rouge, um ihre Blässe zu verdecken, was sie sonst nie tat. Als sie ihr Make-up vervollständigt hatte, hörte sie, dass Pascal die Zimmertür aufschloss. Schnell streifte sie ihren Bademantel über. Sie wollte ihn nicht auf Gedanken bringen, mit denen sie sich im Moment nicht anfreunden konnte. Sich ihm erneut verweigern, wollte sie erst recht nicht.
„Oh, du bist ja schon fast fertig!“, rief Pascal.
Schnell verschwand er ins Bad, während Leonie sich für die Weiterreise bequeme Kleidung anzog. Pascal ließ nicht lange auf sich warten. Sie fuhren mit dem Lift hinunter in den Frühstücksraum, wo sie der Duft von Kaffee und ein reichhaltiges Büfett empfingen.
Während Leonie nur einen Toast, etwas Müsli mit Obst und einen Joghurt aus dem Angebot wählte, bediente sich Pascal reichlich vom Rührei mit Krabben, nahm dazu zwei Brötchen, Lachs, rohen Schinken, Käse, Tomaten und zur Abrundung ein Schüsselchen Quark mit Obst. Als er sah, wie Leonie lustlos in ihrem Müsli herumstocherte, fragte er besorgt: „Bedrückt dich etwas, Leonie?