»Komm, Naki, wir bringen den Männern zu trinken! Sie werden Durst haben, so schwer, wie sie arbeiten!« Die Mutter rührte Wasser unter die Sauermilch, goss dann etwas von dem Getränk in einen kleineren Topf: »Trag du den!«, hob sich selbst den großen aufs Haupt.
Sie, das kleine Mädchen, fasste das Gefäß mit beiden Händen, setzte es sich vorsichtig auf den Kopf, hielt es mit einer Hand, fasste mit der anderen nach der der Mutter.
Die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, den Atem vor Anspannung fast angehalten, so ging sie neben der Mutter her, bemüht, deren stolzes Kopfhalten nachzuahmen. Die Mutter ging mit ihr aus dem Haus, den Pfad zum Eichenhain entlang, zur Baustelle.
Unnahbar, hoheitsvoll, mit feierlichem Ernst ragten die großen Steine in die Höhe. Als hätten sie dort gestanden vom Anbeginn der Welt. Als wären es nicht die Männer gewesen, die sie zur Grabkammer errichtet hatten.
Naki stockte. Sie spürte ihn wieder, den Schauer, dieses Gefühl, für das sie keine Worte kannte, das sie zwang, in der Abenddämmerung allein hierher zu gehen, die Steine anzuschauen, sie zu berühren, ihre Wange an die kalten Flächen zu legen. Und plötzlich vor ihnen niederzuknien.
»Siehst du«, sagte die Mutter, »die Männer bauen schon die Außenwand des Grabes. Es wird noch größer werden als das alte Grab drüben am Hang.«
Der Bann verflog. Naki sah nicht mehr die Ewigkeit der Steine. Sie sah die Männer, die sich an der Baustelle mit einem Findling abplagten.
»Mutter, warum bauen die Männer ein neues Grab? Wir haben doch ein Grab, wo die Großmutter drin schläft und alle anderen?«
»Wir haben ein neues Dorf gebaut, weil die alten Häuser morsch geworden sind. Nun bauen wir das Grab dazu. Ein neues Dorf – ein neues Grab. Alle, die in unserem Dorf sterben, werden in diesem Grab beieinander bleiben, bis zu ihrer Wiedergeburt. Wie weit die Männer schon sind! Wie sie das geschafft haben! Und dein Muga ist der Baumeister, auf ihn kommt es am meisten an. Pass auf, gleich setzen sie einen neuen Stein!«
Die Männer waren mit einem Findling dicht vor einer ausgehobenen Grube. Auf Baumstämmen rollten sie ihn, die Koa zogen mit starken Seilen, die Dala schoben oder halfen mit Eibenholzstangen nach. Nakis Muga gab die Anweisungen.
Wie riesig dieser Stein war! Viel größer als jeder Mann und so dick wie fünf Männer gemeinsam! Selbst ihr Großer Oheim sah klein und schmal neben ihm aus, und dabei war er doch so groß und stark, ein Bär von einem Mann, sagte die Mutter immer. Ein kurzer Ruf des Muga, ein letztes Aufbieten aller vereinten Kräfte, und der Stein rutschte von den Rollen über die schräge Fläche, glitt mit dumpfem Schlag in die Grube und blieb, bis zur Hälfte versenkt, aufrecht in ihr stehen. Die Erde bebte.
»Die du Himmel und Erde und Meer geboren hast, gesegnet ist dein Leib in alle Ewigkeit«, sprach die Mutter.
»Muga!«, rief sie selbst, ließ die Hand der Mutter los und rannte. Das Gefäß auf ihrem Kopf hüpfte, die Sauermilch schwappte über, rann kühl und klebrig den Nacken herab. »Ich bring‘ dir zu trinken!«
Der Muga nahm ihr den Topf ab, trank, zog sie kurz an sich. Sie drückte sich an ihn. Er blinzelte ihr zu: »Jetzt lass die anderen trinken! Die haben es nötiger als ich. Die haben die ganze Anstrengung gehabt!«
»Aber Mutter sagt, auf den Baumeister kommt es am meisten an«, widersprach sie.
Er grinste: »Na, wenn das deine Mutter sagt!«
Sie gab den Milchtopf an den Großen Oheim weiter, doch dann kehrte sie zu ihrem Muga zurück. »Erklärst du mir, wie das Grab aussehen wird?«, bettelte sie. Er strich sich über die Bartstoppeln. Sie mochte dieses seltsam kratzende Geräusch.
»Ein andermal, Naki«, sagte er. »Du musst mich jetzt den Stein einrichten lassen. Kletter dort auf die Eiche und sieh dir alles von oben an! Dann erkennst du selbst, dass es so etwas wie ein riesengroßes Ei ist, was wir hier bauen.«
Enttäuscht verzog sie sich, blickte zweifelnd den hohen Baum empor. Sie versuchte den untersten Ast zu erreichen, sprang, verfehlte ihn, versuchte es immer wieder. »So schaffst du das nie!« Oheim Li hob sie in die Höhe, setzte sie auf den Ast. »Pass bloß auf, dass du nicht runterfällst! Ritgo bringt mich um, wenn dir was zustößt!«
»Der Große Oheim bringt niemanden um!«, erwiderte sie empört.
Er seufzte. »Natürlich nicht!«
Sie kletterte einen Ast höher und noch einen, noch einen. Dann sah sie hinunter. Überrascht sog sie die Luft ein.
Dort war die Baustelle. So anders sah von hier oben alles aus. Die lange Grabkammer aus den riesigen Findlingen mit den sorgfältig durch kleinere Steine vermauerten Fugen war mit einem Blick zu überschauen. Auf einer Seite führte eine Erdrampe bis zur Höhe der gewaltigen Decksteine. Im Abstand um die Grabkammer hatte der Muga einen schmalen Graben gezogen. Sieben große Steine waren bereits in der Linie des Grabens errichtet, standen dicht an dicht. Daneben war schon die Grube für den nächsten Stein ausgehoben.
Jetzt konnte sie es erkennen. Wenn alle äußeren Steine standen, würden sie so etwas wie einen langgezogenen Kreis bilden, der die Grabkammer umschloss.
Und wenn dann der Zwischenraum zwischen äußeren Steinen und Grabkammer mit Erde aufgefüllt und über der Grabkammer der Hügel aufgeschüttet war, würde es tatsächlich aussehen wie ein Ei. Sie wiegte sich leicht im Baum, hin und her, hin und her. Ein hünenhaftes Ei.
Sie wippte. Hin und her, auf und ab. Sie schloss die Augen, ließ sich ganz in die sanfte Bewegung gleiten. Da sah sie es vor sich, das Ei. Gras wuchs auf seiner Wölbung, Blumen blühten. Hell glänzte das steinerne Rund, vollkommen glatt und schön. Aber da, ein Sprung bildete sich an der Oberfläche des Eies, wurde breiter, größer. Etwas drang daraus hervor, wuchs in die Höhe: ein junger Baum.
Er wuchs und sprengte das Ei, breitete seine Arme, gedieh zur mächtigen Eiche, erhob sich bis in den Himmel. Eine Schlange kroch aus dem Ei, wand sich den Baum hinauf. Ein Vogel kam geflogen und ließ sich auf einem Zweig nieder.
Sie öffnete wieder die Augen. Dort unten stand die Mutter mit den Männern neben der Baustelle.