Er ist alt, dachte Lykos. Wie kraftlos seine Arme sind. Der hebt seine Hand nicht mehr gegen mich. Im Kampf hätte ich leichtes Spiel mit ihm. Ich könnte ihn niederstrecken mit einem einzigen Schlag, ihn töten mit meinen bloßen Fäusten. Und ihn habe ich einst gefürchtet, vor ihm habe ich gezittert!
»Ich hoffe, Ihr erfreut Euch bester Gesundheit«, sagte er höflich, »und Eure Herden wachsen und gedeihen!«
»Der Sommer ist zu heiß und zu trocken, und im Frühjahr hat es so gut wie nicht geregnet, unsere eigene Ernte wird schlecht werden, die der Bauern natürlich auch, das drückt das Ausmaß der Abgaben. Und was fast schlimmer ist: Die Trockenheit lässt das Futter knapp werden, und die Hirten müssen ihre Kunst erweisen, um noch ausreichend Tränken für die Herden zu finden«, erwiderte der Vater. »Doch davon jetzt nicht. Früh genug wirst du dich darum zu kümmern haben. Denn ich muss dir sagen: Die Zeit deines wilden Wolfslebens ist bald vorbei. Nicht lange mehr wirst du im Wald bleiben. Nicht lange mehr wirst du der Jagd und dem Kampf leben. Nicht lange mehr wirst du ein Wolfskrieger sein.«
Lykos horchte auf: »Wie meint Ihr das, Herr?«
»Ich fühle die Kälte des Todes. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem du mein Erbe antreten wirst. In Kürze wird es für dich Zeit, das Wolfsfell abzulegen, den roten Mantel mit dem schwarzen zu tauschen, eine Frau zu nehmen, Vieh zu züchten, diesem Hause vorzustehen und deinen Platz im Königsrat einzunehmen. Bereite dich auf den Tag vor, an dem Lykos der Wolf im Feuer der Verwandlung sterben und Lykos der Herr durch Blut und Wasser geboren wird!«
Lykos schwieg. Er hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Nun begriff er selbst nicht: Sollte er stolz sein oder betrübt?
Die Tür öffnete sich mit lautem Ächzen. Noedia kam herein, brachte Met und Fleisch, Brot und Bohnen. Sie kniete bei ihnen nieder, wusch ihnen die Hände über der Wasserschale, schenkte Met ein, legte die Speisen vor, dann verließ sie wieder den Raum.
Der Vater lud die Himmlischen zum Mahl, sprengte ihnen Met ins Feuer, legte ihnen das beste Fleischstück in die Glut. Dann forderte er Lykos zum Essen auf. Lykos, von Hunger und Durst überwältigt, langte mit beiden Händen zu, aß viel, trank noch mehr, trank viel zu schnell. Sein Gesicht rötete sich. Der Vater fragte nach der Jagd. Prahlend erzählte Lykos von dem Keiler, den er am Morgen erlegt hatte, und wies die gewaltigen Hauer vor, die er – ehe er Zeit fände, sie zu spalten und zu durchbohren – an einer Schnur verknotet um den Hals trug. Der Vater nickte zerstreut.
Lykos schüttete den Met in sich hinein.
Der Vater war schweigsam, als warte er auf etwas. Dann endlich begann er zu sprechen: »Warum ich nach dir gesandt habe, Lykos – ich will, dass du eine Aufgabe erfüllst, für die ich zu alt bin. Und die auch besser von dem erfüllt wird, der hier bald Herr sein wird. Ich will, dass du mit deinen Wolfsbrüdern einige meiner Bauern bestrafst.«
Spott zuckte in Lykos auf. So schwach bist du schon, Vater, dass du mich brauchst, um deine Bauern zu bestrafen?! Nur mit Mühe unterdrückte er ein höhnisches Grinsen.
»Ehe du das Wolfsfell ablegst«, fuhr der Vater fort, »präge das Brandmal deiner Stärke unauslöschlich in ihre Gemüter, damit sie ihren Herrn beizeiten kennenlernen!«
Lykos nickte und nahm einen Schluck. »Worum geht es?«
»Um die Bauern in den Höfen hinter dem Schwarzmoor. Sie liefern mir von Jahr zu Jahr weniger Getreide. Sicher, es fehlt an Regen und die Ernteerträge werden schmäler, dieses Jahr besonders. Dennoch habe ich sie im Verdacht, Vorräte vor mir zu verbergen. Und was gefährlicher ist: Sie üben heimlichen Widerstand!«
»Widerstand?«, fragte Lykos ungläubig. Seine Zunge formte die Worte nur noch mit Mühe.
»Wenn ich es sage! Kürzlich habe ich mein Pferd durch ihre Schuld verloren, den Schimmel, der mir mehr bedeutet hat als alles. Ich habe im Dorf hinter dem Schwarzmoor nach dem Rechten gesehen, ich hatte ihn in einem der Bauernhöfe angebunden, und als ich zurückritt, brach er zusammen, mitten im Moor, es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre selbst zu Schaden gekommen, den Hengst musste ich töten, ich bin sicher, er wurde vergiftet – von den Bauern, von wem sonst!«
Lykos sprang auf, schwankte. Wut blitzte in seinen Augen. »Dein Schimmel! Kein Fohlen habe ich so geliebt! Wie können diese Bauern das wagen!«
»Es sind ihre Weiber, die sie dazu anstacheln«, sagte der Vater. »Höre auf mein Vermächtnis, Lykos, das ich seit langem in mir trage. Ich sage es dir im Vertrauen, denn du sollst es für die Zukunft wissen: Es sind die Weiber, die hinter der Aufsässigkeit und den Anschlägen der Bauern stecken! Sie sind der wahre Gegner. Wenn du der Bauern Herr werden willst, so werde ihrer Weiber Herr!«
»Ihrer Weiber?« Lykos leerte mit einem Zug einen ganzen Becher Met, lachte. Endlich setzte er sich wieder. »Was sollen ein paar Weiber ausrichten?! Das verstehe ich nicht.«
»Nein, das verstehst du nicht. Auch ich habe lange gebraucht, es zu begreifen. Aber lerne aus meiner Erfahrung! Die Weiber sind es, die unter den Bauern die Erinnerung an die alte Zeit wachhalten, als unsere Väter noch nicht Besitz von diesem Land genommen hatten. Die Weiber sind es, die ihre Kinder die alte Sprache lehren und die Ehrfurcht vor ihrer Schwarzen Göttin. Die Weiber sind es, die den Himmlischen lästern und den grässlichen Kult ihrer Schwarzen Göttin pflegen. Die Weiber sind es, die mit ihren lüsternen Ausschweifungen jeder Sitte höhnen und die Gier ihrer Männer so anstacheln, dass diese ihnen hilflos verfallen. Die Weiber sind es, die ihren Männern einflüstern, wir seien Eindringlinge und nicht die rechtmäßigen Herren dieses Landes. Brich die Kraft der Weiber – und du rottest die Wurzel des Widerstandes aus!«
»Die Kraft der Weiber brechen?« Lykos lachte immer lauter. Er spürte den Taumel im Kopf, die Hitze in den Lenden. »Da weiß ich ein Mittel, das nie versagt! Seid unbesorgt, Vater, gleich morgen, auf dem Weg zum Gastmahl des Rösos, werden meine Wolfsbrüder und ich diese Bauernhöfe hinter dem Schwarzmoor heimsuchen. Und wenn wir wieder von ihnen ablassen, wird jeder dort mich kennengelernt haben, und niemandem wird mehr der Sinn nach Widerstand stehen, schon gar keinem Weib!«
»Da er dies alles vollbracht, da bettet zum Schlummer sich Trito,
gibt sich den Schwingen des Schlafs hin, der nimmer ermüdende Krieger.
Wie nun der Geist unsres Helden noch weilet in Traumes Gefilden
und seine Glieder noch liegen von sanfter Süße umfangen,
sieh, da erhebt sich die Schlange, die lauernd im Sumpfe gelegen,
recket die dreifachen Köpfe der wütend grimmige Drache.
Feuer entglimmt seinen Augen und Rauch entsteigt seinem Rachen,
fauchend naht er sich furchtbar des Schlafenden viehreicher Herde,
treibt mit dem Schweife das Vieh und die Lämmer tragenden Schafe.
Keinerlei Laut warnt den Helden, kein Bellen den schlummernden Krieger,
weg führt der grässliche Drache die Schafe, die Rinder und Pferde.
Was einst die Himmlischen gütig dem Helden zu eigen geschenket,
stiehlt nun der gierigen Schlange gar niemals ersättliche Raublust.
Hin zu der Höhle im Berge, in unwegsames Gelände,
treibet der Drache das Vieh, so versteckt und verbirgt er die Herde,
sichert mit dreifachem Tor das Geraubte, versperrt es mit Balken,
ruft drauf zur Wache die Hunde, die wütend noch jeden zerrissen,
der je sich ihnen genähert, und sei es im arglosen Guten.«
Der Sänger hielt inne, raffte sein weißes Gewand, ließ seinen Blick über die Gäste gleiten, über den König zunächst, dann über Rösos und die anderen weißgekleideten Greise zu des Königs Rechten, hochverehrte Männer, die ihr Alter zum Amt der Richter und Priester auszeichnete, wartete auf deren kaum merkliches Nicken