Sie müsste ihn nur zu sich heranziehen. Aber sie war so müde.
Zirrkan, Geliebter, wo bist du? Welch schreckliches Unheil, und für mich war es der Anfang vom Glück. Wäre deine Familie nicht gemordet worden, so wärest du damals nicht zu mir gekommen, um bei mir Trost zu suchen. Was wäre ich ohne deine Liebe. Ich sollte so nicht denken, es ist schlecht von mir. Zirrkan, warum hast du nicht Abschied von mir genommen? Deine Mutter hat dich weggeschickt. Was ist das für eine Reise, von der ich nichts wissen darf, nicht einmal ich –
Sie ließ sich zur Seite gleiten und schlief ein.
KAPITEL 2
Seit Tagen war er seiner Fährte gefolgt, nun endlich konnte er gegen den Wind an ihn herankommen: den mächtigsten Keiler, den er je gesehen hatte. Das erste Morgenlicht zeichnete die massig-gedrungene Gestalt. Dort unter den Eichen brach der Keiler mit seinen gewaltigen Hauern den steinharten Boden auf – nur wenige Schritte von Lykos entfernt. Nah genug, dass das Tier sich, erst verwundet, zum Kampf stellen würde.
Dies war die äußerste Prüfung. Wenn er den Pfeil in die Seite des Schwarzwildes schoss, gab es kein Zurück mehr. Wer einen solchen Keiler reizt, fordert den Tod heraus. Lykos ruckte leicht mit der Schulter. Lautlos glitt der Bogen in seine Hand. Einmal noch prüfte der junge Mann den Sitz der Streitaxt am Waffengürtel, vergewisserte sich, dass der starke Eibenholzspeer griffbereit neben ihm lehnte.
Behutsam legte er den Pfeil an. Ein letzter Augenblick des Innehaltens: Aus eigener Kraft hält kein Mann diesem Untier stand, kein Mensch. Göttlicher Krieger, Herrscher der Wölfe, du willst es. Ich folge dir. Nimm von mir Besitz.
Fest zog er Bogen und Sehne auseinander, dehnte die Spannung, schoss. Die Bogensehne sang: triumphierendes Lied von Mannesmut und Gottvertrauen. Der Pfeil traf den Keiler, blieb in seiner Seite stecken. Der Keiler klagte laut, fuhr herum. Schauerlich tönte das erregte Wetzen seines Gewaffs. Lykos ließ den Bogen fahren, riss den Speer heran. Als sich seine Finger um den glatten Schaft schlossen, geschah es: Lykos der Mann – er hörte auf zu sein.
Feuer schoss aus dem Speer in seine Glieder, glühend pulste das Blut. Die feinen Haare in seinem Nacken sträubten sich. Die Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, die Lippen bleckten drohend die Zähne. Lykos der Wolf – er war geboren.
Geduckt, das linke Bein gebeugt, das rechte nach hinten gestützt, den Speer unter die Achsel geklemmt und mit beiden Händen fest umklammert, die Füße mit aller Kraft im Boden verankert, Spannung in jeder Faser seines Körpers: So erwartete er den Keiler.
Mit den überscharfen Sinnen des Wolfes nahm er den beißenden Geruch des Keilers wahr, hörte dessen stoßweisen Atem über das Dröhnen der Erde hinweg. Augenblick, zur Ewigkeit gedehnt.
Mit todbringendem Ungestüm donnerte der Keiler auf Lykos zu. Die gefährlichen Hauer blitzten. Dann der Aufprall, ein Sprengschlag entfesselter Gewalten. Der Speer drang in die Kehle des Keilers, fraß sich tiefer und tiefer, wurde erst vom seitlichen Knebel gebremst. Hellrotes, blasiges Blut rann die Speerrinne herab. Doch ungebrochen schien die Kraft des Tieres.
Die Wolfswut verzehnfachte Lykos‘ Kräfte. Seine Füße gruben sich in den Boden, er drückte mit dem Speer, wand sich von einer Seite zur anderen, hielt und hielt, suchte den Gegner zu Boden zu zwingen, wusste doch: Es war unmöglich. Ein letztes Aufbäumen, dann ließ Lykos den Speer fahren, schnellte in die Höhe, zur Seite. Der Keiler brach an ihm vorbei, fing sich, kam zurück mit dem Speer im Rachen, den Kopf zum blindwütigen Angriff gereckt.
Lykos drehte sich in einem rasenden Wirbel einmal um sich selbst, riss dabei die Streitaxt vom Gürtel, den Arm nach hinten, warf die gesammelte Kraft der Besessenheit in diese eine Bewegung, schleuderte die Axt dem Keiler entgegen.
Die Streitaxt fuhr auf den mächtigen Schädel des Keilers hernieder, krachend zerbarst der Knochen, tiefer noch fuhr die Steinklinge. Blut spritzte auf. Bis zum Schaft im Hirn des Keilers blieb die Axt stecken. Der Keiler sackte zusammen und fiel zu Boden.
Lykos war über ihm, zerrte die Streitaxt aus dem zertrümmerten Schädel, ließ sie wieder und wieder niedersausen, bis die Raserei sich erschöpfte. Dann sank er neben dem Keiler in die Knie. Allmählich verebbte der rasende Herzschlag, die Züge glätteten sich.
Lykos schnitt dem Keiler mit dem Flintdolch die Kehle durch. Er fing mit beiden Händen das hervorquellende Blut auf und versprengte es über die Heide. Höre mich, Herr der Wilden Schar, göttlicher Krieger, furchtbarer Herrscher der Wölfe! Kühle deine heilige Wut im Blut dieses Keilers. Bleibe mir gewogen und siehe, wie ich dir zu Ehren mein Leben gewagt habe! Denn ich bin dir treu.
Schwankend erhob Lykos sich. Merkwürdig schwach war ihm, wie immer nach der Verwandlung. Mühsam straffte er sich, zwang sich, mit festem Schritt zum Fluss hinunterzugehen. Er legte den Waffengürtel ab. Nackt lief er über Steine und hartgetrockneten, rissigen Schlick bis in die Mitte des Flugbettes, in dem eine tiefere Rinne noch Wasser führte, stieg ins Wasser, wusch sich, wusch die Hitze des Kampfes ab und den Blutrausch.
Dann ließ er sich von der Sonne trocknen und kämmte mit den Fingern das lange Haar. Schließlich schlug er junge Bäume und baute aus dünnen Stämmen, Zweigen und Waldreben einen Lastschlitten. Keuchend wälzte er den massigen Körper des Schwarzwildes auf das Gestänge, band seinen Gürtel am Schlitten fest und begann zu ziehen.
Nur mühevoll kam er zwischen den Bäumen vorwärts. Jeder Stein, jede Bodenwelle und jede Baumwurzel wurden zum Hindernis. Dennoch gab er nicht auf: Das Staunen der Wolfsbrüder zu sehen, wenn er mit dieser Last vor ihrer Hütte erschien! Schweiß rann ihm in die Augen, trübte ihm die Sicht. Nass klebte das lange Haar auf seinem vernarbten Rücken. Die Muskeln schmerzten. Kaum achtete er mehr auf den Wald. Die schleichenden Schritte hinter dem Gebüsch bemerkte er dennoch.
Ohne zu stocken, ohne den Kopf zu drehen, ohne auch nur aus den Augenwinkeln zur Seite zu spähen, ging er scheinbar ahnungslos weiter, hörte die Schritte verstohlen näher kommen, jenseits des Gebüschs zu ihm aufschließen. Den Gürtel fallen lassen, die Streitaxt vom Lastschlitten reißen, durchs Gebüsch springen, sich auf die Gestalt stürzen, sie zu Boden drücken, die Streitaxt gegen sie erheben: All dies war eins. Dann erst sah er, wen er niedergeworfen hatte: einen Jungen, der ihn mit schreckgeweiteten Augen anstarrte.
Lykos ließ den Arm sinken, warf die Streitaxt beiseite, packte den Jungen am Kinn. Schon wollte er ihn schlagen, doch plötzlich lachte er: »Bist du es wirklich, Temos, kleiner Bruder? Wie lang ich dich nicht gesehen habe! Beinahe hätte ich dich nicht wiedererkannt!«
»Ich – ich dich auch nicht«, stotterte der Junge. Lykos gab ihn frei, erhob sich und schüttelte den Kopf. »Wie kannst du einen Wolfskrieger beschleichen, Kleiner! Weißt du nicht, wie leicht dich das dein Leben kosten kann?«
Temos stand auf, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Schon. Aber ich war bei der Hütte, gestern abend bin ich dort angekommen, und deine Wolfsbrüder haben gesagt, du seist im Wald, und Vater hat doch gesagt, ich soll dich suchen, aber ich wusste nicht, ob du es wirklich warst, und da …«
»Vater?«, unterbrach ihn Lykos. »Er schickt dich zu mir?«
»Ja. Ich soll dir sagen, du sollst zu Hause vorbeikommen, ehe du zum Gastmahl des Rösos aufbrichst!«
Lykos runzelte die Stirn. »Wird Vater nicht bei Rösos sein?«
Temos sah zu Boden. »Ich weiß nicht«, erwiderte er zögernd. »Er ist seit Tagen nicht mehr ausgeritten.«
»Ist er krank?«
Temos hob die Achseln. »Er redet nicht darüber. Aber meine Mutter macht sich Sorgen um ihn.«
»So. Dann wollen wir keine Zeit verlieren. Hilf mir, den Keiler zur Hütte zu bringen!«
Lykos wies den Jungen an, den Lastschlitten zu schieben, während er selbst wieder zog. Sein Vater …
Wenige Male hatte er ihn in den letzten Jahren gesehen und es nicht vermisst. Nur bei den großen Gastgelagen war er ihm hin und wieder begegnet, die der König