„Selbstverständlich! Sag es ihm.“
Der Violette räusperte sich. „Derartige Vorbereitungen sind aber üblicherweise nur den Familienmitgliedern des jungen Herrn vorbehalten…“
„Ach, sei still und tu wie dir befohlen. Sag es ihm einfach!“ Mit einer beiläufigen Handbewegung schickte Amenhotep den vor Schreck kreidebleich Gewordenen fort. „Es ist der Vater meines Freundes. Und der gehört so gut wie zur Familie!“
Kaum hatten die Soldaten den Leichnam ausgeladen, setzte sich das Schiff wieder in Bewegung. Auf Anis entsetzten Blick meinte Amenhotep nur, dass er schließlich versprochen habe, dass Ani am Abend gebührend Abschied von seinem Vater würde nehmen können. Und auf ein Versprechen seinerseits ‑ Ani möge sich dies von nun an für alle Zeiten merken ‑ könne man sich jederzeit verlassen. Schnell jagte das Schiff den Kanal entlang, von dem plötzlich ein kurzer Stichkanal zu einem See führte, der von Dattelpalmen umstanden war. Es war wie das Traumbild einer Oase: Inmitten all des grau-gelben öden Sandes leuchtete ein tiefblauer See, umringt von hohen Palmen und regelrechten Blumenpolstern, die in allen Farben blühten.
„Den hat mein Vater meiner Mutter als Liebesgabe geschenkt. Als sie noch jung waren.“ Amenhotep deutete auf den See.
„Den ganzen See?“, fragte Ani ungläubig. „Dann muss dein Vater aber reich sein!“
„Tja“, nickte Amenhotep. „Das war in der Tat ein kostspieliges Unterfangen. Hier war ja gar nichts. Es dauerte ewig, bis das Becken ausgehoben worden war. Und die besten Architekten scheiterten daran, es schließlich auch dicht zu bekommen.“
„Und was macht deine Mutter nun mit ihrem See?“ Ani kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Sie fährt darauf spazieren.“
„Was? Sie fährt einfach nur darauf spazieren?“ Ani meinte seinen Ohren nicht trauen zu können. „Das kann sie doch genauso gut auf dem Nil machen.“
„Wo denkst du hin?“, kam entrüstet Amenhoteps Antwort. „Nur auf einem solchen Schiff wie dem unseren kann man den Nil sicher befahren. Bei all den Krokodilen und vor allem den zahllosen bösartigen Nilpferden ist Vorsicht geboten. Auf ihrem See aber kann sie, nur von ihren Zofen begleitet, nach Herzenslust spazieren fahren und ihre Ruhe genießen. Bei uns zu Hause sind ja immer und überall irgendwelche Menschen. Diener und Beamte, Wesire und Priester. Sogar der Zeugung der Kinder wünscht man beizuwohnen. Also hat mein Vater ihr diesen ganz persönlichen See geschenkt, den er selbstverständlich mit ihr bei einer gemeinsamen Bootsfahrt eingeweiht hat.“ Amenhotep zwinkerte.
„Ha“, schlussfolgerte Ani. „Und dabei bist du gezeugt worden!“
„Ich habe so sagen hören“, pflichtete Amenhotep schmunzelnd bei, wobei Ani sofort an seine eigenen Eltern denken musste, die ihn gewiss unter ganz anderen Umständen gezeugt hatten. Noch immer konnte er nicht fassen, was alles geschehen war und zwickte sich unauffällig ins Bein, um sicher zu gehen, dass er nicht träumte.
Am Ende des tief ins Land hinein führenden Kanals befand sich ein beeindruckend großes Hafenbecken, in dem mehrere Schiffe lagen. Eines von ihnen wurde gerade mit großem Geschrei ausgeladen. Fremdartige Tiere wurden von Bord geführt, die Ani noch nie zuvor gesehen hatte. Schwarz-weiß gestreifte, pummelige Pferde, fast mannshohe zottelige Affen, die artig an der Hand ihrer Pfleger von Bord gingen, riesige, in Käfige eingesperrte Löwen, die furchterregend brüllten und nervöse Leoparden, die unablässig fauchten und rastlos in ihren Gefängnissen auf und ab liefen. Am eindrucksvollsten fand Ani jedoch ein Tier mit turmhohem Hals, das aussah wie eine Kreuzung von Leopard und Dromedar. Es stank erbärmlich, was selbst aus der Ferne noch deutlich zu vernehmen war. Es wurde gerade die Rampe hinuntergeführt und stakste mit seinen langen, dürren Beinen unbeholfen über die Planken.
„Komm“, winkte ihm Amenhotep zu. „Der Trubel kommt uns sehr gelegen. Alle begaffen jetzt die Viecher, also werden sie uns kaum beachten.“ Und schon war er von Bord und nickte Ani aufmunternd zu. Der kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus: Es wurde geschrieen und gelacht, hierhin gerannt und dorthin, zwischendrin die allgegenwärtigen Wasserverkäufer aber auch Händler, die irgendwelche anderen Dinge anpriesen. Bald wäre Ani angst und bange geworden vor dieser ungewohnt riesigen und lauthals krakeelenden Menschenmenge, hätten sich ihnen nicht die Bewaffneten angeschlossen, die ihnen sogleich einen Weg durch die Massen bahnten. Eigentlich taten sie nichts weiter, als vor, neben und hinter Amenhotep und Ani zu gehen. Ihre schiere Gegenwart genügte jedoch, die Menschen wie selbstverständlich ausweichen zu lassen, so dass sich schnell eine Gasse bildete. Die meisten Menschen senkten sogar den Kopf, als ob sie einer ehrwürdigen Person Achtung darbieten wollten.
„Und du sagst noch, dass sie uns kaum beachten würden“, zischte Ani.
„Das tun sie doch auch gar nicht“, entgegnete Amenhotep belustigt. „Die glotzen alle nach den Tieren hin. Und wer im Weg steht, weicht aus und senkt den Blick. Was meinst du, was sonst hier los wäre, wenn nicht gerade stinkende und geifernde Bestien ausgeladen werden würden.“
Fröhlich marschierte Amenhotep weiter, während Ani die Augen überzugehen drohten. Was von weitem wie ein einziger lang gezogener Gebäudekomplex ausgesehen hatte, stellte sich von nahem als regelrechte Stadt heraus, die sich vom Hafen bis zu einem teilweise grotesk verschachtelten, riesigen Bauwerk erstreckte. Jetzt, während der Nilflut, stand die dem Fluss zugewandte Seite mitten im Wasser. Trutzig ragten dort die Mauern empor. Aber dennoch wirkte der Bau nicht einschüchternd, abweisend oder gar feindlich. Die vielen Anbauten, die in den unterschiedlichsten Stilen ausgeführt und ebenso bunt bemalt waren, ließen ihn sogar freundlich, ja, heiter, wenn auch wehrhaft erscheinen.
Amenhotep bemerkte Anis Interesse. „Das ist der Harem. Jede der Frauen bekommt ihr eigenen Gemächer, die sie selbstverständlich ganz nach ihrem Geschmack ausstatten darf. Sie sollen sich ja auch zu Hause fühlen. Ich wohne gleich daneben.“
„Aha“, dachte Ani, „dann ist er wohl der Sohn von irgendeiner der Haremsdamen.“ Weitere Überlegungen konnte er nicht mehr anstellen, da sie gerade an einer Töpferwerkstatt vorüberkamen. Noch nie hatte Ani derart bemalte Gefäße gesehen. Und er kannte sich ein wenig darin aus, denn seine Freundin Sahirah … Nun, er nannte sie seine Freundin, während sie ihn hingegen hartnäckig als einen guten Bekannten zu bezeichnen pflegte. Jedenfalls war seine Freundin Sahirah die Tochter eines Töpfers und Ani hatte fast all seine freie Zeit in dessen Werkstatt verbracht. „Dieses Hellblau ist wunderbar“, entfuhr es ihm. „Wie bekommen sie das nur hin? Und dann die Ornamente! So beschwingt und heiter!“
„Ach was!“, staunte Amenhotep. „Ich dachte dein Vater war Landmann.“
„War er auch.“ Und knapp erzählte Ani die Geschichte von Sahirah.
„Und warum zeigt sie sich dir gegenüber so spröde, deine Sahirah?“ Amenhotep war auf einmal sehr viel mehr an einer womöglich tragischen Liebesgeschichte interessiert, als an Anis Wissen über das Töpferhandwerk.
„Nun ihr Vater ist Töpfer und führt eine eigene Werkstatt. Mein Vater ist…“ Ani stockte. „Mein Vater war nur Pachtbauer.“
„Ich verstehe.“ Amenhotep nickte. „Wir sollten dafür sorgen, dass solche Dinge zukünftig aufhören. Und jetzt spute dich ein wenig. Wir sind schon spät dran. Und weder meine Mutter noch mein Vater schätzen Unpünktlichkeit.“
Ani nahm sich fest vor, bei allernächster Gelegenheit einen ausgedehnten Streifzug durch die seltsame Stadt zu unternehmen. Denn alles, was hier gefertigt wurde, schien gediegener und von weitaus besserer Qualität zu sein als alles, was er bislang gesehen hatte. Sogar die Straße war sauber. Zwar gab es auch hier Schweine, die sich um den Unrat kümmerten und grunzend umherstanden. Aber der Dreck sammelte sich hier in Gossen, um die sich die Schweine versammelten, und war nicht wie sonst überall wild verstreut.