„Ho ho ho“, polterte plötzlich Amenhoteps Vater los. „Was ist denn hier los?! Ein Diener wird von Prinzessinnen gefüttert, während euer alter Vater unbeachtet und einsam herumsitzt und Hunger leidet!“ Augenblicklich stürzten sich alle seine Töchter, außer der Jüngsten Nebet-tah, die endlich in den Armen ihrer Mutter eingeschlummert war, auf ihn und verwöhnten ihn mit den köstlichen Leckereien. Er lachte lauthals und ließ sich die Aufmerksamkeiten bereitwilligst gefallen.
Nachdem die silbernen Platten eine nach der anderen leer geräumt worden waren, erhob sich Pharao, hakte sich bei seiner Frau unter, die noch immer das schlafende Kind auf ihrem Arm trug und sagte mit einer Stimme, die keinerlei Widerspruch zuließ: „So, nun ist die Zeit der Mittagsruhe. Ein wenig später als sonst, aber genauso nötig wie immer.“ Und schon waren er und seine Frau verschwunden.
„Und wer bist Du?“ Thutmosis hatte sich wie zufällig neben Ani gesetzt und beäugte ihn von oben bis unten. „Ein halb verhungertes Findelkind vom Lande“, warf Sit-amun schnippisch ein und machte dabei den Dialekt der Bauern nach. „Ein armer Kerl, dem die Götter übel mitgespielt haben!“ Iset und Henut-tau-nebu hatten sich zwischenzeitlich bestens über den Neuankömmling informieren lassen und waren wild entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Lebensfreude des vom Schicksal so arg Getroffenen wieder zu beleben. „Er hat binnen eines Tages Vater, Mutter und die Schwester verloren“, erklärte Iset voller Mitgefühl. „Wie grausam die Götter doch manchmal sein können“, räsonierte Henut-tau-nebu. „Aber unser Vater, der Gute Gott, wird schon schützend seine Hand über ihn halten.“
„Ich bin es“, meinte Amenhotep stolz, „der seine schützende Hand über ihn hält.“
„Und warum?“, fragte Thutmosis neugierig. „Was sind seine Vorzüge, dass du ihn ständig um dich haben möchtest?“ Er schaute Ani auf eine Art und Weise an, als ob er damit bislang Unentdecktes an ihm aufspüren könnte.
„Weil er nichts von alledem weiß, was uns hier in unserem finsterem Gemäuer umtreibt“, gab Amenhotep zur Antwort. „Und weil er ein kluger Kopf ist. Und weil ich ihn vor einem unwürdigen Dasein gerettet habe.“
„Du weißt, dass Dankbarkeit sich oft rasch abnutzt“, gab Thutmosis zu bedenken. Und an Ani gewandt fuhr er fort: „Hast du schon mal ein Chepesch-Schwert geführt?“ Ani schüttelte den Kopf. „Weißt du mit Pfeil und Bogen umzugehen?“ Ani schüttelte abermals den Kopf. „Dann wirst du wohl auch nicht wissen, wie man einen Speer schleudert.“
„Ich bin der Sohn eines Pachtbauern.“ Ani richtete sich auf. „Ich kann dir sagen, wann die günstigste Zeit zur Ernte ist. Ich kann dir sagen, wie man Tongefäße herstellt. Auch kann ich dir sagen, wie man die Bewässerungskanäle verbessern kann, damit die Ungleichheit in der Wasserversorgung endlich aufhört. Außerdem kann ich dir sagen, wie man die Steuern gerechter erheben könnte. Vor allem aber weiß ich, dass nichts von Menschenhand Geschaffenes schöner sein kann als die Natur selbst.“
„Na, da schau an!“ Thutmosis war sichtlich beeindruckt von Anis Worten, die dieser ohne jede Spur von Dünkel vorgebracht hatte. „Du musst dich hier in unserer Schlangengrube aber ein wenig vorsehen, mit dem, was du von dir gibst. Unser Vater schätzt die Künste so sehr, dass er hier die besten Handwerker, selbst aus den entferntesten Ländern beschäftigt. Wenn einer von denen dich so reden hört, hast du dir schnell einen neuen Feind gemacht. Und sei versichert: Die Zahl der Feinde wächst hier im Palast von ganz allein. Unser Vorsteher der Kornkammern wird dich solche Dinge nämlich ebenso wenig gern sagen hören wie unser Wesir.“
„Es tut mir leid, wenn ich etwas Falsches gesagt habe“, entschuldigte sich Ani. „Es ist besser ihr lasst mich wissen, was ich nicht sagen darf.“ Alle lachten und Ani wurde rot. „Ich meine natürlich die Umgangsformen.“
„Vergiss sie, die Umgangsformen“, Thutmosis legte Ani kurz die Hand auf die Schulter. „Jedenfalls so lange wir hier unter uns sind. Ich glaube aber nun zu wissen, warum mein kleiner Bruder will, dass du an seiner Seite bleibst.“
Selbst Sit-amun, die über Amenhoteps schnippische Bemerkung in Bezug auf ihre Neugier noch immer verstimmt war, blickte nun etwas weniger finster auf den Neuankömmling. „Was du über die Schönheit der Natur gesagt hast, hat mir ausnehmend gut gefallen“, meinte sie versöhnlich.
„Ja, ausnehmend gut“ pflichteten Iset und Henut-tau-nebu einstimmig bei, so als hätten sie es eingeübt und nickten kräftig mit den Köpfen. Waren sie doch von Anfang an von Amenhoteps neuem Freund angetan und hingen mit strahlenden Augen an seinen Lippen.
„Da siehst du es!“, lachte Amenhotep. „Du musst nur von Schönheit reden und schon hast du die Frauen auf deiner Seite. Aber nicht nur die. Die Zeiten werden sich ändern, Ani. Mein Vater hat begonnen, was Thutmosis beenden wird. Es werden nicht mehr Kraft und Gewalt regieren, sondern Klugheit und Schönheit. Die Vernunft wird zukünftig die große Eroberin sein – und nicht mehr die Gewalt.“
„Ich wünschte, es wäre schon soweit“, seufzte Thutmosis und klatschte in die Hände, woraufhin ihm ein Diener eine junge Katze brachte, die er liebevoll in Empfang nahm und sogleich zärtlich streichelte. „Aber noch muss ich, dem Wunsch des Pharao entsprechend, das Kriegshandwerk erlernen. Meine Kinder und Enkel werden es aber hoffentlich nicht mehr tun müssen. Nicht wahr, Ta-miat?!“ Er herzte das schlummernde Fellknäuel und drückte es innig an seine rechte Wange. „Die ist mir zugelaufen“, sagte er zu Ani gewandt. „Die Soldaten haben mit ihren Streitwagen die Mutter und den Rest des Wurfes totgefahren. Da hab ich sie mitgenommen, weil sie ja überhaupt niemanden mehr auf der Welt hatte. Und jetzt ist sie mein bester Freund.“
Amenhotep schaute Ani verlegen an und lächelte gequält.
„Wie ich sehe, hat sie sich vollkommen eingewöhnt“, sagte Ani und schaute Amenhotep fest in die Augen. „Dann ist sie sicherlich die glücklichste Katze der Welt.“
Eine dicke alte Dame mit einem mütterlichen Gesicht, die während der ganzen Zeit irgendwo im Hintergrund saß, räusperte sich. „Der Gute Gott sprach von den Segnungen der Mittagsruhe …“ Und schon sprangen alle auf und liefen plappernd davon.
„Komm, Ani“, winkte ihm Amenhotep. „Ich zeig dir jetzt meine Wohnung.“
Wieder liefen sie durch unzählige dunkle Flure. Vorbei an der Wäschekammer, deren Tür man offenbar vergessen hatte, zu schließen, so dass Ani raumhohe Regale voller sorgfältig zusammengelegter, blendend weißer Leinentücher erkennen konnte; vorbei an der Küche, in der Dutzende von Dienern und Dienerinnen Speisen vorbereiteten; vorbei schließlich auch an einer prächtigen Wohnung, deren Eingangstür weit offen stand. Amenhotep blieb kurz stehen und lugte hinein. Eine nicht mehr ganz junge, in dicke fremdländische Gewänder gekleidete Frau kniete vor einem Räuchergefäß und knetete wollüstig stöhnend ihre Brüste. „Schawuschka, Schawuschka, thisch atai Schawuschka“, wiederholte sie in einem fort.
„Das ist Giluschepa, die Tochter des Königs von Mitanni, eine Nebenfrau meines Vaters“, erklärte Amenhotep und tippte sich dabei an die Stirn. „Sie ist nicht mehr ganz