Ellen zwinkerte der Älteren zu und sagte mit kokettem Augenaufschlag: »Ach so? Stehst du vielleicht eher auf Dr. van Houten?«
»Ach was, der ist ein ganz lieber Kerl, aber nicht mein Typ und zudem für meinen Geschmack zu alt!«
»Äh, ich dachte, er ist in deinem Alter?«
»Ja. Eben«, grinste Deborah.
Inzwischen betrat Dr. van Houten das Hotelzimmer, das er mit Karim teilte. Von dem Fußboden der geräumigen Suite war nahezu nichts mehr zu sehen. Überall lag aufgerissenes Verpackungsmaterial, und an den Wänden stapelten sich leere Kartons. Die Betten glichen einem Warenlager für Outdoor-Ausrüstung, und der Schreibtisch, auf dem in der Mitte das DNA-Labor thronte, war zur Technik-Zentrale mutiert.
»Was ist denn hier los?« Von der Eingangstür her versuchte Dr. van Houten sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen. »Morgen früh starten wir – und hier sieht es aus wie nach einem Bombeneinschlag!«
»Hallo Doc!«, begrüßte ihn Bud. »Wir laden gerade ein Software-Update für das DNA-Labor herunter, nur die Datenrate hier im Hotel ist leider erbärmlich. Dann verfügen wir auf der Affenjagd über die neuesten Datenbanken.«
»Es sind keine Affen, das sagte ich Ihnen doch schon!«
»Ja, ich weiß, ist aber einfacher auszusprechen als ›Jagd auf den Homo floresiensis‹. Was ich Sie übrigens fragen wollte: Warum suchen Sie die Urmenschen nicht drüben auf der Insel Flores, wo Sie die Knochen gefunden haben?«
»Eine durchaus berechtigte Frage, Mr. Waters. Laut den Legenden der heutigen Bewohner von Flores sollen ja Nachfahren des Homo floresiensis bis in die vorkoloniale Zeit dort gelebt haben. Die Einheimischen nannten sie Ebu Gogo, was in etwa bedeutet ›Großmutter, die alles isst‹. Der Name stammt wohl daher, weil diese kleinen Urmenschen laut Überlieferung offenbar in den Dörfern immer wieder Lebensmittel stahlen – wahrscheinlich, weil ihr Lebensraum immer mehr eingeengt, und somit ihre Nahrungsgrundlage immer schmaler wurde. Wie auch immer, die Menschen tolerierten die Angewohnheiten ihrer kleinen Nachbarn bis zu einem gewissen Grad – ja, sie stellten ihnen angeblich sogar hin und wieder Essen bereit.«
»Klingt nach halbwegs harmonischem Zusammenleben.«
»Ja, aber leider nimmt die Legende kein gutes Ende: Als in einem Menschendorf ein Baby spurlos verschwand, verdächtigte man die Ebu Gogo, es gestohlen und sogar aufgegessen zu haben. Daraufhin versammelten sich die Bewohner, zogen zu der Höhle der Urmenschen und räucherten sie aus. Seitdem wurde kein Ebu Gogo auf Flores mehr gesehen.«
»Schrecklich … aber wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet, klingt das für mich durchaus plausibel«, sinnierte Bud.
»Für mich auch«, meinte der Doktor. »Dann stieß ich bei weiteren Recherchen auf die Berichte über sehr ähnliche Begegnungen mit affenartigen Menschen auf Sumatra – vor allem auf die Aufzeichnungen Dr. Deborah Lindseys. Deshalb entschied ich mich, hier zu suchen. Sumatra ist ja auch um ein Vielfaches größer als Flores und bietet viel mehr Rückzugsgebiete für seltene und sogar bisher unentdeckte Tierarten.«
»Darüber bin ich auch sehr froh, weil sich mir dadurch die Chance bot, dabei zu sein«, sagte Bud. »Übrigens wollte ich Sie noch über etwas in Kenntnis setzen, was den Start unserer Tour vielleicht um einen Tag verschieben könnte.«
»Oje, was haben Sie angestellt?«
»Gar nichts, zumindest nichts Schlimmes. Habe mich nur ein bisschen umgehört und bin einem Gerücht nachgegangen, wonach es noch einen direkten Nachfahren der Labun-Frau mit einem der Affenmenschen geben soll, die dieser William Marsden erwähnt hat. Na, was sagen Sie jetzt?«
»So etwas soll ich glauben?«
»Warum nicht? Sicher, klingt ein wenig weit hergeholt, aber mit diesem Baby hier …«, Bud deutete auf den DNA-Tester, »… könnten wir das beweisen oder eben widerlegen. Wäre vielleicht sowieso eine gute Idee, gleich hier zu überprüfen, ob die neue Software reibungslos funktioniert. Nicht erst im Urwald. Dort habe ich nämlich keine Hotline!«
»Was meinen Sie, Karim?«, wandte sich Dr. van Houten an den bisher nur abwartend zuhörenden Genetiker.
»Na ja, wenn diese Geschichte wahr sein sollte, müssen sich auch Spuren in seiner DNA finden lassen, die nicht vom Homo sapiens, also dem modernen Menschen stammen. Dann könnte ich die fremde DNA isolieren und es ließen sich wertvolle Rückschlüsse daraus ziehen, um welche Art Mensch es sich im Falle dieses Vorfahren handelte. Außerdem muss ich Bud recht geben, was das Labor betrifft: Ich würde es auch lieber hier testen.«
»Aha, ihr beiden habt das also quasi schon beschlossen … Nun, zugegeben, wenn etwas an dem Gerücht dran ist, wäre das sensationell. Und ein Tag Verzögerung lässt sich wohl verschmerzen. Nur, wie sollen wir diesen angeblichen Nachfahren finden?«
»Glücklicherweise, mein lieber Doktor, habe ich auch eine Adresse …«, grinste Bud.
Kapitel 2
Am nächsten Tag machten sich Dr. van Houten und Bud Waters in einem der beiden gemieteten Geländewagen auf, um Padang in Richtung Pariaman – der nächstgelegenen kleineren Stadt an der Küste – zu verlassen. Bud, gewöhnt an den in Indonesien üblichen Linksverkehr, saß am Steuer und dirigierte den schweren Wagen zunächst vorsichtig durch das schier unglaubliche Gewühl der Innenstadt Padangs, bevor sie die nordwestliche Ausfallstraße erreichten und das Tempo erhöhen konnten. Während sie die endlosen Reihen trostloser Wellblechhütten passierten, die den Stadtrand Padangs bildeten, erzählte Bud, dass ihre Zielperson so etwas wie eine lokale Berühmtheit darstelle.
»Sein Name ist Eko Rimba, und er gilt als ziemlich wunderlich und verschroben. Scheint aber unheimlich stolz auf seine Abstammung von den Urwaldmenschen zu sein und erzählt angeblich jedem davon, der sich interessiert zeigt – und allzu oft auch denen, die es nicht interessiert.«
»Und woher haben Sie die genaue Adresse?«
»Also, naja, um ehrlich zu sein, es ist eher eine Wegbeschreibung – aber wir werden es schon finden. Im Notfall müssen wir uns halt durchfragen.« Dr. van Houten blickte zwar skeptisch, enthielt sich aber eines entsprechenden Kommentars.
Sie passierten Minangkabau, den internationalen Flughafen Padangs, dann verließ Bud die bisher gut ausgebaute Hauptstraße und steuerte das Auto durch ein Gewirr unasphaltierter Nebenstraßen, das sich zwischen kleinen Dörfern und Palmölplantagen erstreckte. Dabei änderte er so oft die Fahrtrichtung, dass sich Dr. van Houten zu fragen begann, ob sein Fahrer noch irgendeine Ahnung hatte, wo sie sich gerade befanden. An einer Kreuzung stoppte Bud schließlich, ließ das Fenster herunter und wechselte ein paar Worte in indonesischer Sprache mit einem Bauern, der an seinem kleinen Stand Obst und Gemüse anbot. Der Angesprochene gestikulierte wild in die Richtung, aus der sie gerade kamen, und ließ dabei einen Redeschwall los, der Bud offenbar überforderte, denn er hob nur dankend die Hand und wendete den Wagen auf der Kreuzung.
»Haben Sie sich verfahren?«, konnte sich Dr. van Houten nicht verkneifen zu fragen.
»Hab’ nur die letzte Abzweigung übersehen, es muss hier ganz in der Nähe sein, der Bauer kennt unseren Mann.«
»Woher beherrschen Sie so gut indonesisch?«
»So gut ist es gar nicht, eben nur das, was ich hier im Lauf der Zeit aufgeschnappt habe. Das Notwendigste verstehe ich – und für den Rest helfe ich mir meistens mit Händen und Füßen. So, hier hätte ich links fahren müssen …«
Bud bog in einen noch schmaleren Feldweg ein, der nach wenigen hundert Metern an einem Zaun endete, vor dem Bud den Wagen anhielt und den Motor abstellte. Hinter der Begrenzung stand eine windschiefe Hütte, die nicht den Eindruck vermittelte, den nächsten Taifun auch nur ansatzweise überstehen zu können. Sie stiegen aus und gingen zu einem nur mittels einer Drahtschlaufe an einem Pfosten angehängten Gatter.