Geisterzorn. S. G. Felix. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: S. G. Felix
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753190549
Скачать книгу
Dies allein vermochte mich jedoch nicht in Besorgnis zu versetzen. Schließlich hatte ich mich seit Jahren tagein tagaus nur mit den Geistern beschäftigt, die nicht ruhen wollten. Alpträume waren nicht mehr und nicht weniger als eine logische Konsequenz meines unsinnigen Verhaltens. Unsinnig, sage ich, weil es mir bis zum heutigen Tage nicht gelungen ist, irgendetwas über die Beweggründe der geisterhaften Wesen hier in Lost Haven herauszufinden. Stattdessen bin ich genauso klug und genauso dumm wie zuvor. Verschwendete Jahre waren es, die ich mit den Befragungen, den Niederschriften und den Recherchen verbracht habe. Verschwendet, sage ich.

       Ich glaubte, durch die Bildung von kausalen Zusammenhängen der Geschehnisse Rückschlüsse ziehen zu können, die mich der Lösung des Problems näher bringen würden. Doch statt Dank für meine Bemühungen wurde mir nur Unverständnis und schlimmer noch: Misstrauen entgegengebracht. Ja, es gab sogar ein wütendes Frauenzimmer, das mir vorwarf, mit den Geistern im Bunde zu stehen, weil ich anscheinend als Einziger von bösen Dingen verschont geblieben wäre.

       Ich verleugne nicht, dass ich in der Tat all die Jahre unbehelligt blieb. Doch insgeheim wünschte ich mir doch, einem der Geister zu begegnen, um sein Geheimnis zu lüften. Doch mit meinen aufkeimenden Nachtmahren sollte sich dieser Wunsch ins Gegenteil verkehren. Als ich darauf jede Nacht von bösen Träumen verfolgt wurde, beschloss ich endgültig, meine Arbeit aufzugeben und das Buch zu schließen. Ruhe suchte ich zu finden. Doch war sie mir nicht mehr vergönnt. Mittlerweile ist es so schlimm, dass ich es seit Tagen nicht mehr wage, in einen Spiegel zu blicken, denn dort lauert der Tod auf mich.

       Es begann vor sechs Tagen, als aus meinen Alpträumen Realität wurde. An einem eigentlich schönen Sonntagmorgen erwachte ich spät aber ausgeruht. Hinter mir lag die erste Nacht seit Wochen, in der ich nicht von einem Albtraum heimgesucht worden war. Mit noch verschlafenen Augen blickte ich an diesem Morgen in den Spiegel in meinem Badezimmer. Was ich in jenem Spiegel sah, den ich unlängst zerstört habe, ließ mich erschaudern. Denn schräg hinter meinem Spiegelbild stand in meiner unmittelbaren Nähe eine von einer dunklen, nebelartigen Aura verhüllte Gestalt, die kein Gesicht besaß, aber mich anzublicken schien. Zu Tode erschrocken drehte ich mich auf dem Absatz um, doch hinter mir war niemand zu sehen, so dass ich glaubte, schon Gespenster zu sehen, die meiner Fantasie entsprungen waren. Erleichtert atmete ich auf und drehte mich wieder zum Spiegel. Ich wollte mich überzeugen, dass mir meine Fantasie nur einen Streich gespielt hatte, was in Anbetracht der unzähligen Geistergeschichten, mit denen ich mich die vergangenen Jahre beschäftigt hatte, keinesfalls überraschend gewesen wäre. Doch als ich erneut in den Spiegel blickte, war die Gestalt immer noch da, direkt hinter meinem Spiegelbild. Kaum konnte ich diesen neuerlichen Schrecken begreifen, streckte das Wesen im Spiegel plötzlich seine Hände nach meinem entsetzten Spiegelbild aus, umklammerte dessen Hals und würgte es. Schreiend packte ich meine Hände an den Hals, konnte jedoch keine fremden Hände ergreifen, sondern nur den rasenden Puls an meinem Hals spüren. Erneut warf ich mich herum und konnte doch wieder niemanden sehen. Was immer dieses Ding war, es lebte und agierte nur im Spiegel. In Panik geraten, drehte ich mich wieder zurück zum Spiegel. Von der anderen Seite blickte mich das finstere Wesen mit seinen verborgenen Augen an. Mein eigenes Spiegelbild war nicht mehr existent. Das Wesen hatte es umgebracht. Ich schrie erneut vor Entsetzen. Dann packte ich den Spiegel, riss ihn von der Wand und schmetterte ihn zu Boden.

       So hat es begonnen.

      Nach diesem entsetzlichen Erlebnis weigerte ich mich zu akzeptieren, dass das Ding aus dem Spiegel ein böser Spuk war, der mir nach dem Leben trachtete. Ich redete mir ein, dass ich den Verstand verloren hatte. Ich beschloss zunächst, sämtliche Spiegel, die ich besaß, zu zerstören. Mit geschlossenen Augen ergriff ich die in meinem Haus verbliebenen Spiegel - es waren drei an der Zahl - und zerstörte sie. Das Ding aus der Spiegelwelt, gleich ob real oder meiner Fantasie entsprungen, sollte keine Gelegenheit mehr haben, einen weiteren Blick in meine Welt zu erhaschen. Dass mein Verstand womöglich angegriffen, nicht aber Generator scheußlicher Halluzinationen war, habe ich erst jetzt begreifen können. Welch undenkbares Glück war mir nur all die Jahre beschieden, dass ich von den Geistern, die Lost Haven heimsuchten, verschont geblieben war, und welch unsägliches Pech lastet nun auf mir, dass ich einem besonders bösartigen Spuk ausgeliefert bin! Ich entschied mich fortan, jedweden Kontakt mit einer spiegelnden Oberfläche zu vermeiden. Doch musste ich jäh feststellen, dass dieses Vorhaben leichter gesagt war als getan.

       Zwei Tage vergingen, ohne dass ich in eine spiegelnde Oberfläche geblickt hatte, geschweige denn jemandem mein Leid geklagt hatte. Erst in diesen dunklen Stunden erahnte ich, welch unsägliches Leid all die Opfer der Geistererscheinungen durchlitten haben mussten. Wie einsam sie sich gefühlt haben mussten. Verlassen von allem, was gut war.

       Doch am heutigen Abend ist es wieder geschehen. Stets hatte ich die letzten zwei Tage rechtzeitig vor Sonnenuntergang die Vorhänge vor allen Fenstern in meinem Haus zugezogen, um so zu verhindern, mein Spiegelbild, oder das eines anderen im Fenster vor einem dunklen Hintergrund sehen zu müssen. Doch heute vergaß ich, das Fenster in der Küche zu verhängen. Die Sonne war bereits vollständig untergegangen, als ich ahnungslos in die Küche schritt, um meinen Hunger zu stillen. Während ich mir mein Abendmahl bereitete und dabei direkt vor dem Fenster stand, blickte ich beiläufig in genau dieses Fenster. Was ich dort erblickte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Alles was ich sehen konnte, war durch die dunkle Spiegelung des Fensters getrübt, doch sah ich genug, um zu verzweifeln.

       Die dunkle Gestalt. Sie war wieder da. Und wieder stand sie genau hinter meinem Spiegelbild. Die Gestalt hob ihre rechte Hand, in der sie ein großes Messer hielt. Es war mein großes Küchenmesser, das hinter mir in einer Schublage liegen sollte. Ich wusste, würde ich mich umdrehen, wäre hinter mir niemand zu sehen, und würde ich die Schublade öffnen, wäre das Messer an Ort und Stelle, doch ich widerstand der Versuchung mich umzudrehen. Ich wollte mich dem Wesen aus der Spiegelwelt stellen. Doch wurde ich nur erneut Zeuge, wie das Ding mein Spiegelbild ermordete, indem es diesmal das Messer meinem Ebenbild in den Rücken rammte.

       Ich schrie auf, nahm meinen Teller und warf ihn in das Fenster, das darauf klirrend zerbarst. Es ging zwar alles furchtbar schnell, doch noch bevor ich das Fenster zerstören konnte, sah ich für den Bruchteil einer Sekunde, wie mich das Ding auf der anderen Seite anstarrte und dabei mit dem Finger auf mich zeigte. Die Botschaft, die diese Geste vermitteln sollte, war eindeutig. Sie lautete: »Das nächste Mal bist Du dran!«

       Ich kauere jetzt schon seit Stunden im Korridor meines Hauses auf dem Boden und schreibe diese Worte nieder. Ich weiß nicht, ob ich diese Nacht überleben werde.

       Bald müsste die Sonne aufgehen. Ich habe Angst davor, dass das Wesen aus der Spiegelwelt entkommt und mich findet.

      An dieser Stelle enden Arthur Farrels Aufzeichnungen.

      Seine Leiche wurde drei Tage später in seinem Haus gefunden. Sein lebloser Körper lag quer über seinem Bett. Sein Gesicht war von tiefen Schnitten durchsetzt, die von den Glasscherben des Schlafzimmerfensters stammten. Als Todesursache wurde zunächst der massive Blutverlust angenommen, doch bis heute hält sich hartnäckig die Auffassung, dass Farrel durch einen plötzlichen Herzstillstand infolge eines massiven Schreckens gestorben war.

      6

      Nach Farrels Tod gab es nur noch sehr vereinzelt Berichte oder Gerüchte über Poltergeisterscheinungen. In den folgenden Jahrzehnten will immer wieder jemand einen Geist gesehen oder unerklärliche Phänomene erlebt haben. Aber etwas Vergleichbares mit den Schilderungen von Farrel hat es nie wieder gegeben. Was immer auch in Lost Haven vorgefallen war, nach fast genau zehn Jahren hatte es ein Ende gefunden.

      Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts scherte sich kaum jemand noch um den Gespenster-Mythos von Lost Haven, und so versank das Dorf an der Ostküste des Atlantiks zunehmend in der Bedeutungslosigkeit. In den neunzehnhundertfünfziger Jahren gab es nur noch knapp vier Dutzend Einwohner.

      Erst ab den sechziger Jahren begann das Interesse an Lost Haven wieder aufzuflammen. Geistergeschichten kamen mehr und mehr in Mode. Ende der siebziger Jahre entwickelte sich gar ein richtiger Tourismus. Immer mehr Menschen