Heimat der Greifen. Lina Lintu. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lina Lintu
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752965315
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Treppe nach oben zuwenden wollte.

      „Ah, das ist die Hintertür. Man gelangt direkt in den Garten und zum Stall.“

      Im oberen Geschoss befanden sich ein weiteres Bad, Josephines Schlafzimmer sowie ihr Büro und ein Gästezimmer für Besuch. Nach der Führung durch das Cottage setzten sie sich ins Wohnzimmer.

      Den Außenbereich und den Stall hatten sie ausgelassen. Das sei Robins Aufgabe, sagte Irena. Nina störte das nicht. Sie war nie warm geworden mit Tieren, die größer als eine Katze waren. Dementsprechend froh war sie gewesen, dass ihre Oma jemanden in ihren Diensten hatte, der sich bisher um die Greifen gekümmert hatte und es auch weiterhin tun würde.

      Bei einer Kanne Tee besprachen Nina und Irena dann erst einmal die formellen Sachen. Nina hatte zwar das Cottage geerbt, aber nur unter der Bedingung, dass die bisherigen Bewohner weiter dort wohnen bleiben durften. Die Greifenzucht hatte ein eigenes Firmenkonto, das rechtlich auch Nina gehörte, aber das für die nächsten 24 Monate nur dazu genutzt werden sollte, Irena und Robin weiterhin zu bezahlen.

      „Ich glaube, deine Großmutter wusste, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie hat alles so gewissenhaft geregelt.“ Irena lächelte traurig.

      „Mein Beileid“, murmelte Nina, die nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte. Für Irena war es sicher ein größerer Verlust gewesen als für sie selbst.

      „Versuchen wir uns lieber fröhlicheren Themen zu widmen.“ Irena schien zu merken, dass Nina die Situation unangenehm war. „Was ist dein Lieblingsessen? Und was magst du gar nicht? Ich muss mich in Zukunft beim Kochen ja auch nach dir richten.“

      Es war schon später Nachmittag, als Nina endlich die Gelegenheit fand, ihre Koffer aus dem Auto zu holen. Zum Glück hatte der Nieselregen endlich aufgehört und die Wolkendecke bekam dunkelblaue Risse.

      Sie hatte aus Respekt vor ihrer Oma ursprünglich das Gästezimmer wählen wollen, doch Irena hatte sie schnell überredet, Josephines altes Zimmer zu nehmen. Das hätte sie so gewollt.

      Eine gute Entscheidung, wie Nina zugeben musste.

      Es war das hellste Zimmer im Bailangryph Cottage; ein großes Doppelfenster öffnete sich nach Südwesten. Unten sah man den Parkplatz und die Zufahrt, doch schon nach wenigen Metern verschwand die Straße hinter einer Biegung und nichts trübte mehr den Blick auf die umliegende Landschaft. Im letzten Licht der untergehenden Sonne wirkten die Hügel mehr golden als grün, und die dunklen Wolken, die immer noch über den Himmel krochen, bekamen von unten rot-orange Farbtupfer.

      Nina wollte schon ihr Handy aus der Tasche nehmen, um den Moment festzuhalten, doch dann entschied sie sich doch dagegen. Stattdessen genoss sie den Anblick nur für sich. Und nur wenige Augenblicke später zog eine Wolke vor die Sonne und die kräftigen Farben verblassten schlagartig.

      Nina seufzte.

      Sie packte ihre Kleidung aus dem einen Koffer in den leeren Kleiderschrank. Irena hatte Josephines Sachen schon in Kisten auf dem Dachboden verstaut. Bei Gelegenheit würde Nina sie durchsehen und dann entscheiden, was damit geschehen sollte. Doch für den Moment war sie dankbar, dass sie sich nicht darum kümmern musste.

      Die Bilder hatte Irena allerdings nicht von den Wänden genommen. Eins davon war ein altes Foto von Josephine. Obwohl es mit der Zeit verblasst war, konnte man immer noch erkennen, dass sie die gleichen rotblonden Haare und Sommersprossen gehabt hatte wie Nina.

      Bei den restlichen Bildern handelte es sich um Werke, die Josephine selbst gemalt hatte. Vor wenigen Minuten noch hätte Nina gesagt, dass die Farben der Landschaftszeichnungen künstlerisch verfremdet waren, doch sie hatte gerade selbst gesehen, wie farbenprächtig ein Sonnenuntergang hier in Irland sein konnte.

      Nina setzte sich aufs Bett, das nach frisch gewaschener Wäsche roch, und ließ die Bilder auf sich wirken.

      Sie versuchte sich vorzustellen, wie ihre Oma am Fenster gesessen hatte, genau in diesem Zimmer, und mit schwungvollen Strichen die Farbe auf der Leinwand verteilt hatte. Sie hatte Irland und seine Landschaft immer geliebt. Eine Liebe, die ihr Sohn nicht geerbt hatte.

      So war Nina in Deutschland aufgewachsen und auch nach dem Tod ihrer Eltern dort geblieben. Wo hatte sie sonst auch hin sollen? Als Anfang des Jahres – nur zwei Jahre nach ihren Eltern – auch ihre Oma gestorben war, hatte sie es als Wink des Schicksals verstanden.

      Statt das geerbte Cottage zu verkaufen, hatte sie ihre Wohnung in Duisburg zurückgelassen und war ohne Netz und doppelten Boden nach Ardara gezogen.

      Zusammen mit dem Cottage hatte sie außerdem etwas Geld geerbt. Nicht viel, doch genug, dass sie die nächsten paar Monate überstehen konnte. Und bis dahin würde sie sicher in der Stadt einen Job gefunden haben.

      Vertieft in Gedanken und Erinnerungen, und erschöpft von der langen Reise, schlief Nina einfach ein. Und Irena weckte sie auch nicht fürs Abendessen.

      Erst am nächsten Morgen wachte sie orientierungslos wieder auf. Sie war in einem fremden Zimmer und trug noch ihre Straßenkleidung. Doch mit jedem verschlafenen Blinzeln kehrten mehr Erinnerungen zurück.

      Sie nahm sich frische Kleidung aus dem Schrank und ging dann in das Bad am Ende des Flurs. Frisch geduscht und mit nicht zerknitterter Kleidung traute sie sich dann nach unten ins Erdgeschoss, wo Irena, den Geräuschen und den Gerüchen nach zu urteilen, schon das Frühstück vorbereitete.

      „Kann ich dir helfen?“, bot Nina an, als sie sah, wie die kleine alte Frau mit einer Hand das Rührei vorm Anbrennen bewahrte und mit der anderen losen Tee in eine Kanne gab.

      „Nein, nein, ich brauche keine Hilfe, Schätzchen. Ich mach das seit vier Jahrzehnten so. Deine Oma konnte auch nie dabei zusehen. Aber entgegen ihrer Befürchtungen ist nie etwas kaputt gegangen und nie etwas angebrannt!“

      Nina lachte und setzte sich an den Esstisch. Bei genauem Hinsehen hatten Irenas Vorbereitungen tatsächlich etwas von einer jahrelang einstudierten Choreografie. Jeder Handgriff saß, alles stand genau so bereit, dass Irena nicht einmal hinschauen musste.

      Erst als sie den fertigen Tee – duftender Earl Grey – einschenkte, bemerkte Nina, dass drei Tassen auf dem Tisch standen. Und auch drei Teller sowie dreimal Besteck. Wahrscheinlich für Robin, doch von ihm fehlte noch jede Spur.

      Ob er es Nina übel nahm, dass sie sich ihm nicht gleich am ersten Tag vorgestellt hatte?

      Allerdings hatte er selbst auch keine Anstalten gemacht, sie kennenzulernen.

      Hoffentlich war Robin nicht die Art von Mann, der eine Frau als Chefin – was Nina ja nun mal war – nicht respektierte. Oder zumindest keine Frau respektierte, die jünger war als er selbst.

      Fotos von den Bewohnern des Bailangryph Cottage hatten bei den Unterlagen nicht beigelegen, doch in Ninas Kopf entstand auf einmal ein klares Bild von Robin: ein bäuerlicher Typ Mitte vierzig, mit Holzfällerhemd, schwieligen Händen und beginnenden Geheimratsecken.

      Und mit jeder Sekunde hatte Nina weniger Lust, diesen Robin kennenzulernen.

      Nein, das war unfair ihm gegenüber. Sie sollte bei der ersten Begegnung unvoreingenommen sein. So früh morgens war sie wohl noch etwas misanthropisch veranlagt. Zeit für etwas Koffein.

      Nina zog ihre Tasse zu sich, nippte vorsichtig an dem heißen Tee und verbrannte sich trotzdem die Lippe.

      „Wann kommt Robin normalerweise zum Frühstück?“, fragte Nina so höflich wie möglich.

      „Sobald die Greifen fertig sind. Mal früher, mal später. Wir müssen aber nicht warten“, erklärte Irena und lud Nina eine ordentliche Portion Rührei auf den Teller. „Hier. Du hast sicher Hunger, wenn du kein Abendessen hattest.“

      „Danke.“ Sie nutzte die Gelegenheit, als Irena sich selbst Rührei nahm, um sich am Bacon zu bedienen. So konnte sie immerhin sichergehen, dass die Portion nicht zu riesig wurde.

      Normalerweise frühstückte Nina nur am Wochenende, aber dieser Dienstag hier fühlte sich ziemlich nach Wochenende an. Zudem wäre es unhöflich – und töricht – ein