Dabei blieb es nicht. Einige Kinder leidenschaftlicher Nazis, die dennoch zum Unterricht kamen, hörten genau hin und gaben alles, auch ganz lächerliche Dinge, ihren Vätern wieder. Zum Beispiel erzählte Wilhelm in der letzten Stunde vor den Ferien von seiner Reise nach Dänemark, was für ein herrliches Land es sei, von der Schönheit der Natur und dem guten Essen, der dänischen Butter. Das reichte für eine erneute Vorladung.
Auch in den Gottesdiensten saßen regelmäßig Spitzel, die seine Predigt mitschrieben. Das wurde deutlich an den Vorladungen, die ihn wieder und wieder zum Büro des Gestapoleiters führen.
»Ich kann nicht anders«, meinte er zu mir, »ich sage als Mitglied der Bekennenden Kirche vieles mit Angst und Zittern, weil ich es sagen muss. Sonst würde ich meinen Auftrag verleugnen und wäre nicht mehr ein Knecht Christi.«
Ich war stets froh, dass er ein aufrechter Mann mit einer Haltung war. Ich fürchtete mich aber auch deswegen. Hoffentlich würde uns und unserer Familie das nicht einmal zum Verhängnis werden.
1920
Eine Frau ohne Kenntnisse
Seine Klarheit und seine Haltung war, was mir zuerst an ihm auffiel. Ich war jung und lernte ihn, den Studenten der Theologie, während meines Studiums in Bonn kennen. Damals hatte ich eine andere Hoffnung für meine Zukunft, eine andere Vorstellung von meinem Leben. Ich durfte selbst studieren und das war damals etwas Besonderes.
Ich bin in Köln-Kalk aufgewachsen. Meine Mutter starb, als ich erst sechzehn Jahre alt war. In meinem letzten Schuljahr wurde Vater versetzt. Meine Geschwister Erich und Martha zogen mit ihm nach Paderborn. Dass ich die Stadt unmittelbar vor meinem Abschluss noch wechsle, hielt Vater nicht für sinnvoll. Ich hatte zwar von meinem Lehrer eine Empfehlung für das dortige Knaben-Gymnasium bekommen. Aber was, wenn ich dort nicht zurechtgekommen wäre? Also blieb ich in Köln. Vater fand ein möbliertes Zimmer in der Nachbarschaft und versorgte mich finanziell, so gut er konnte. Die Familie eines Kollegen kümmerte sich ein wenig mit um mich. Zunächst war das Alleinleben eine aufregende Sache, doch es war auch nicht leicht für mich. Die Versorgungslage nach dem Krieg war immer noch nicht einfach. Manchmal nahm ich die Brotkrusten aus der Schule mit nach Hause, damit ich dort noch etwas zu essen hatte. Einmal bekam ich ein ganzes Pfund Butter aus Paderborn geschickt. Das war ein Fest - Brotkrusten mit richtig dicker Butter!
Vater war nach meinem Zeugnis der Reife der Meinung, dass ich eine gute Ausbildung erhalten sollte, weil er mich klug, fleißig und sprachbegabt fand. Das Lernen hatte mir in der Schule immer Spaß gemacht und auch herausgefordert, der Gedanke an ein normales Frauenleben, irgendwann nur noch kochen und putzen zu dürfen, erschreckte mich. Am liebsten wollte ich mich weiter mit meinem Lieblingsfach Religion beschäftigen und lernen, lernen, lernen. Deshalb unterstützte er mich in meinem Wunsch, Theologie zu studieren, obwohl nicht klar war, was ich damit anfangen sollte. Pastor konnte ich schließlich nicht werden, obwohl es damals zunehmend den Ruf nach einer Eigenständigkeit der Frauen gab. Sogar das Wahlrecht war gerade für uns eingeführt worden. Da Theologie also kein richtiges Studium sei, wie er meinte, empfahl er mir, mich auch noch im Fach Nationalökonomie einzuschreiben. Vielleicht konnte ich daraus einmal einen Beruf machen. Es würde sich zeigen. Jetzt wollte ich erst einmal studieren, und zwar, um meinen Wissensdurst zu stillen.
Um Studentin an der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität in Bonn zu werden, musste ich mich mit Handschlag an Eides statt verpflichten, die Gesetze und die Vorschriften treu und gewissenhaft zu beachten. Damit wurde ich unter die akademischen Bürger der Universität aufgenommen. Ich war aufgeregt und stolz. Wie schön das Leben doch war.
Ein kleines Zimmer fand ich in der Reuterstraße 55. Heimelig war es nicht, die Tapete war dunkel und die kleinen Fenster ließen nicht viel Licht und Sonne herein. Die einzige Lichtquelle war eine riechende Petroleumlampe, nicht mehr als eine Funzel. Aber es war günstig. Als Erstes hing ich meine Ahnengalerie an die Wand. Unser letztes Familienbild von 1915, als Mutter noch lebte. Das, auf dem meine kleine Schwester so keck auf der Balustrade sitzt. Und das Foto von 1903, ich war drei Jahre alt und saß mit meiner Puppe auf dem Schoß vor meinen Eltern auf einem kleinen Hocker. Mein ganzer Stolz, der neue Puppenwagen, war auch zu sehen. Schließlich das von 1905. Ich war fünf Jahre alt und stand bei meiner Tante Angelika, Vaters Schwester. Meine Großmutter hielt den kleinen Erich im Taufkleidchen auf dem Schoß. Meine Eltern waren im Hintergrund zu sehen.
Seit Mutters Tod freute ich mich über jedes Bild, das ich von ihr habe.
An meinem ersten Tag in der Theologischen Fakultät war mir bange zumute, aber ich atmete tief durch und lief im Strom mit den jungen Männern auf die Tür des Hörsaales zu.
Es gab zwar einige Frauen an der Universität, doch in der Theologie schien ich die Einzige zu sein. Mit klopfendem Herzen betrat ich das Hebräisch-Seminar, das ich mir aus dem Stundenplan herausgesucht hatte. Es war ein seltsames Gefühl, von so vielen, noch dazu männlichen Augenpaaren gemustert zu werden. Aber ich tat so, als sei das völlig normal, nahm meinen Platz ein, zückte Heft und Stift und machte ein möglichst unbeeindrucktes Gesicht. Der Professor betrat den Hörsaal und meinte nach einem kurzen Gruß: »Fahren wir dort mit der Übersetzung fort, wo wir letztes Mal aufgehört haben.« Ich hielt die Luft an, was meinte er? Es ging der Reihe nach, einer nach dem anderen übersetzte einen Text und bald war wohl auch ich dran. Ich konnte doch noch gar kein Hebräisch. Anscheinend saß ich hier gründlich falsch.
»Was mache ich bloß?« war mein einziger Gedanke. »Ich falle ohnehin auf, weil ich eine Frau bin, noch dazu eine ohne Kenntnisse.«
Mir wurde abwechselnd kalt und heiß. Die Gedanken tobten in meinem Kopf.
»Soll ich, wenn ich an der Reihe bin, sofort beichten, dass ich hier falsch sitze? Oder einfach schweigen und den Part ganz selbstverständlich an meinen Nachbarn weitergeben?«
Der Professor hatte mich sehr wohl schon bemerkt, alle anderen auch. Nur noch ein einziger Student saß zwischen der Blamage und mir – als die Glocke schellte und das Seminar vorbei war. Was für ein Glück! Aufrecht verließ ich den Hörsaal, wieder unter vielen Augen, die mir folgten.
Josef, lieber Josef mein
Ich fand allmählich die Seminare und Vorlesungen für das erste Semester, ich lernte Kirchengeschichte und büffelte hebräische Vokabeln. Das machte mich glücklich, dabei flog die Zeit an mir vorbei. Meinen Kopf und meinen Verstand zu füllen, war genau das, was ich mir gewünscht hatte. An die einsamen Wege als einzige Studentin hatte ich mich allmählich gewöhnt. Es war eben so. Ich blickte, wie ich es immer tat, auf das Gute in allem, dass ich studieren konnte.
Zwei Studenten bemerkte ich im Laufe der Zeit, die mich immer wieder besonders aufmerksam beobachteten. Ob sie dachten, dass ich es nicht merke? Ihre Gesichter leuchteten auf, wenn sich unsere Blicke trafen. Die beiden kamen und gingen oft zusammen und schienen Freunde zu sein.
Nach einer Weile traten sie auf mich zu und stellten sich mir mit einer angedeuteten Verneigung vor. Sie hießen Ernst Franke und Wilhelm Simon, beide studierten wie ich evangelische Theologie. Auch ich sagte meinen Namen: »Helene Schmidt, angenehm.« Wir reichten uns die Hände und wussten nicht so recht weiter. Ein gestammelter Satz über das schöne Wetter und wir gingen wieder auseinander. Ich hatte das Gefühl, die beiden hatten sich einen Ruck gegeben, um mich kennen zu lernen. Mit der Zeit begegneten wir uns häufiger, und damit entspannte sich die Situation. Manchmal wie zufällig auf dem Weg oder im Treppenhaus, sowohl in der Universität als auch in der Argelander Straße. Dort, im Studienhaus der Evangelischen Studentengemeinde, verbrachte ich wie sie nicht nur die Lernzeiten, sondern auch einen Teil meiner Freizeit.
Ich freute mich, die beiden auch in der dort tagenden Christlichen Studentenvereinigung wieder zu sehen. Sie