Cäcilie. Patricia Weiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patricia Weiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752917543
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und war der Augapfel ihres Vaters. Die Kleine liebte den Rhein, deshalb war dieser Ort perfekt und ihr Vater unternahm gerne Ausflüge mit dem Schiff mit ihr. Doch eines Tages traf sie das Verhängnis. Sie wurde übermütig, kletterte auf die Reling, um einem anderen Boot zuzuwinken, und fiel über Bord. Natürlich wurde ihr sofort ein Rettungsring zugeworfen, den sie sich auch umlegen konnte, doch es war zu spät: Sie war der Schiffsschraube schon zu nahe gekommen. Als man sie an Deck zog, waren ihr Gesicht und ihr Körper überall zerschnitten und der rechte Arm abgetrennt worden.“

      Barbara schüttelte sich. „Jetzt übertreibst du. Das ist doch nicht wahr.“

      Drake machte ein geheimnisvolles Gesicht. „Wer weiß. Aber wartet erst mal ab, wie es weitergeht. Die kleine Cäcilie war schwer verletzt, die Ärzte kämpften mehrere Wochen um ihr Leben, bis klar wurde, dass sie es schaffen würde, und es dauerte fast ein Jahr, bis sie endlich das Krankenhaus verlassen konnte. Ihr Vater soll ihr eine Spieluhr ins Hospital gebracht haben, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte und deren Melodie sie sich immer wieder anhörte. Angeblich spielte sie ‚Guten Abend, gute Nacht‘, das Wiegenlied von Brahms (der das Musikstück übrigens hier in Bonn komponiert hat). Sie hat sich das Lied sogar so oft angehört, dass eine Tonzunge, also eine dieser kleinen Metallkammzinken, abbrach. Die Spieluhr und die Erinnerung an ihre Mutter haben ihr sicherlich geholfen, langsam wieder gesund zu werden. Aber sie war nie mehr dieselbe, ihr Gesicht war völlig zerstört. Aus dem kleinen, hübschen Mädchen mit den blonden Zöpfchen war ein einarmiges, humpelndes Monster geworden, das sich nur noch mit grunzenden Lauten verständigen konnte.“

      „Wehe, die Geschichte ist wahr“, warf Laura ein, als er eine kurze Pause machte. „Dann hast du uns nämlich gehörig den Abend verdorben. Die arme Kleine.“

      Er zwinkerte ihr zu und lächelte leicht, dann fuhr er fort.

      „Der Vater wollte sich nicht damit abfinden. In der ganzen Welt suchte er nach den besten Ärzten, die Cäcilie ihre Lieblichkeit und die Stimme zurückgeben sollten. Aber vergebens. Jeder sagte ihm, es sei unmöglich und man könne nichts tun. Bis auf einen.“

      Er trank theatralisch einen Schluck Champagner und sah in die gespannten Gesichter seiner Zuhörer.

      „Jetzt erzähl schon weiter“, drängte Gilda und stupste sein Bein mit dem Fuß an.

      „Es war ein Arzt aus Montevideo. Er hatte einen schrecklichen Ruf. Es gab Gerüchte, dass er an lebendigen Menschen experimentierte, um selbst eine Kreatur zu erschaffen. Aber es konnte ihm nie etwas nachgewiesen werden.“

      „Montevideo, ja?“, fragte Marek spöttisch.

      Drake zuckte mit den Schultern. „Cäcilies Vater holte ihn hierher, in diese Villa, richtete ihm ein Labor und ein Operationszimmer ein und zahlte ihm so viel Geld, wie der Arzt verlangte. Und damit begann das wahre Martyrium für Cäcilie. Es heißt, sie wurde fast jede Woche operiert. Vor allem das Gesicht und die Stimmbänder. Sie muss Unglaubliches ertragen haben, einmal soll der Arzt sogar versucht haben, ihr den Arm eines toten Kindes anzunähen. Da sie nicht mehr sprechen konnte, war es ihr nicht möglich, ihren Vater um Hilfe zu bitten. Und der verstieg sich immer mehr in der irrsinnigen Hoffnung, der verrückte Arzt könnte doch noch Erfolg haben, und stoppte das unheilige Treiben nicht. Gute Absichten führen manchmal auf direktem Wege in die Hölle.“

      Drake machte erneut eine Pause.

      Barbara verdrehte die Augen und nippte an ihrem Champagner. Gilda stupste wieder mit der Spitze ihres schwarzen Stiefels gegen Drakes Bein.

      „Sechs Monate nachdem der Arzt aus Montevideo hier eingezogen war und sein schändliches Treiben begonnen hatte, starb Cäcilie. Obwohl sie unglaublich geschwächt war, hatte sie trotzdem eines Nachts versucht, zu fliehen. Angeblich war sie aus dem Bett gestiegen, die Treppen hinuntergewankt und in der Nacht verschwunden. Allerdings hat man sie nie gefunden. Der Vater schickte Suchtrupps mit Hunden los, um die Umgebung zu durchkämmen, und heuerte Boote und Schiffe an, um den Rhein mit Schleppnetzen absuchen zu lassen. Doch vergeblich. Das kleine Mädchen mit den blonden Zöpfen war wie vom Erdboden verschluckt. Genauso wie die Spieldose. Der einzige Gegenstand, der ihr in der ganzen Zeit des Martyriums Trost gespendet hatte.“

      „Gruselig.“ Laura sprang auf, lief zu dem großen Tisch und schenkte sich Champagner nach.

      „Es geht noch weiter: Nach einigen Tagen verzweifelte Cäcilies Vater. Eines Nachts drehte er völlig durch und erwürgte den verrückten Arzt mit bloßen Händen auf dessen Operationstisch. Dann nahm er ein rasiermesserscharfes Skalpell und zerfleischte seine Leiche. Es muss ein furchtbares Blutbad gewesen sein. Außerdem schnitt er seinem Opfer den kleinen Finger der rechten Hand ab. Vielleicht als Zeichen der Sühne? Oder als Tribut? Für Cäcilies verlorenen Arm? Und all ihre erduldeten Qualen? Wer weiß. Anschließend zündete er im ganzen Haus Kerzen an, legte sich in die Badewanne, öffnete sich die Pulsadern und wartete auf den Tod. Als er bereits völlig geschwächt war, schleppte er sich noch in sein Schlafzimmer, legte sich auf das Bett, schnitt sich auch den kleinen Finger der rechten Hand ab und starb. Jedenfalls vermutet man, dass es so abgelaufen ist, denn die beiden wurden erst Wochen später gefunden und waren schon so stark verwest, dass eine Herleitung der genauen Umstände nicht mehr möglich war.“

      Drake trank einen Schluck Champagner und hob den Zeigefinger zum Zeichen, dass er mit der Erzählung noch nicht fertig war.

      „Aber vielleicht war ja alles ganz anders? Vielleicht ist Cäcilie gar nicht geflohen, sondern hat sich im Haus versteckt? Vielleicht auf dem Dachboden? Oder in einer verborgenen Kammer unten im Keller? Vielleicht hat sie auf ihre Chance gelauert, um sich zu rächen für all das Leid, das man ihr angetan hatte. Und eines Nachts, als der verrückte Arzt aus Montevideo sich für einen Augenblick auf seiner Operationsliege ausgestreckt hatte, um eine Pause von seinen schändlichen Experimenten zu machen, kroch sie aus ihrem Versteck. Leise wie ein Schatten. Griff mit den zarten, kleinen Fingern ihrer verbliebenen Hand nach dem glänzenden, scharfen Skalpell ... und zerfleischte den arglosen Arzt. Kam wie eine Furie über ihn und richtete ein unsagbares Blutbad an. Nahm Rache an ihrem Peiniger genau an dem Ort, wo sie ihr Martyrium durchleiden musste.“

      Drake nahm wieder einen Schluck und sah einmal in die Runde.

      „Anschließend tötete Cäcilie ihren Vater. Weil er es gewesen war, der sie diesem sadistischen Monster ausgeliefert hatte. Und vielleicht lauert sie ja immer noch hier? Irgendwo in den Tiefen der alten Villa. Und wartet darauf, auch uns zu erwischen. Einen nach dem anderen. Und uns abzumetzeln mit dem blutigen Skalpell ihres Peinigers, dem verrückten Arzt aus Montevideo. Also macht nicht den Fehler wie in den Horrorfilmen und entfernt euch von der Truppe. Bleibt schön zusammen. Nur so sind wir sicher vor ihr.“

      Drake drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger, dann wurde er wieder ernst.

      „Das Haus stand danach zehn Jahre leer, bis daraus eine Nervenheilanstalt von zweifelhaftem Ruf gemacht wurde. Aber auch die wurde vor fünfundzwanzig Jahren geschlossen und seitdem ist das Gebäude ungenutzt. Außer heute Abend.“ Er hob sein Glas und deutete eine leichte Verbeugung an.

      Die anderen applaudierten.

      „Toll erzählt“, lachte Barbara. „Wirklich gruselig. Aber die Geschichte stimmt natürlich nicht. Ich bin mir sicher, ich hätte sonst davon schon einmal gehört.“

      Drake grinste. „Wer weiß. Natürlich habe ich die Story ein bisschen ausgeschmückt. Aber ein kleines Mädchen namens Cäcilie hat wohl wirklich hier mal gelebt. Ich habe es irgendwo gelesen. Aber vielleicht war sie auch nur eine Patientin.“

      „Jedenfalls sah sie bestimmt nicht wie ein Monster aus und wurde auch nicht von dem verrückten Arzt gequält. Das hast du dir ausgedacht.“ Gilda sprach noch lauter als gewöhnlich. Anscheinend war ihr die Geschichte nahe gegangen und sie wollte sich nun selbst beruhigen.

      „Ist der Mann auf diesem Bild der Arzt aus Montevideo?“ Laura war wieder aufgestanden, um das Porträt aus der Nähe zu betrachten.

      Marek schüttelte den Kopf. „Nein, das ist der erste Direktor der Nervenheilanstalt. Genauso wie der gute, alte Drake habe ich mich auch über das Gebäude schlaugemacht. Was haltet ihr davon,