Cäcilie. Patricia Weiss. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patricia Weiss
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752917543
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Gestank, der ihnen entgegenschlug, ließ ihn zurückprallen. Er kniff die Augen zusammen und trat näher. Kämpfte sich geradezu durch den giftigen Nebel, einer Mischung aus Verwesungsgasen, Verzweiflung und Verdammnis. Bis zu einer Operationsliege. Und bis zu dem, was darauf lag und was einmal ein Mann gewesen war. Bevor ihn die vielen Wunden, Fäulnis und Zersetzung bis zur Unkenntlichkeit entstellt hatten.

      Davor, auf dem Boden, in einer Lache aus getrocknetem Blut und anderen Körpersäften lag ein Skalpell. Die Klinge schwarz von geronnenem Blut.

      „Der ist ermordet worden. Bestimmt wegen des verschwundenen kleinen Mädchens.“

      Er hatte gar nicht gemerkt, dass einer der Polizisten neben ihn getreten war. „Die Schlussfolgerungen überlassen Sie mir“, wies er ihn brüsk zurecht.

      „Natürlich.“ Der Mann zog erschrocken den Kopf ein und trat einen Schritt zurück.

      Der Kommissar presste das Taschentuch fester vor Mund und Nase und beugte sich vor. Nahm den Arm des Toten näher in Augenschein.

      An der rechten Hand fehlte der kleine Finger.

      Dann hörten sie Rufe aus dem Erdgeschoss.

      „Hierher. Im Schlafzimmer!“

      Er rannte auf den Flur zurück, froh, diesen Ort des Gemetzels verlassen zu können, und lief die Treppe hinunter.

      „Hier hinten!“

      Er folgte der Stimme durch die große Eingangshalle, einen Flur entlang bis zu einem Schlafzimmer, das die Ausmaße eines Tanzsaals hatte. Wuchtige Samtvorhänge hielten das Sonnenlicht fern und ein dicker Teppich schluckte das Geräusch seiner Schritte.

      Doch nichts konnte den Gestank kompensieren.

      „Im Bett.“

      Auch hier waren es nur noch die Überreste eines Menschen, der zusammengekrümmt auf der Matratze lag. Sein Körper war als solcher kaum noch zu erkennen und schien durch den Fäulnisprozess fest mit der über ihn gebreiteten Decke zusammengebacken worden zu sein.

      „Ekelhaft“, flüsterte der Polizist neben ihm.

      Kurz überlegte er, ihn zu tadeln, etwas mit Respekt vor den Toten und Menschenwürde zu sagen, aber dann sah er davon ab.

      Das hier hatte keine Ähnlichkeit mit einem Menschen mehr.

      „Haben Sie das gesehen?“ Der Polizist wies auf ein schmutziges Skalpell, das zwischen den fast vollständig skelettierten Fingern des Toten steckte.

      Zwischen vier skelettierten Fingern.

      Der fünfte fehlte.

      „Natürlich“, antwortete er knapp. „Ich denke, der Fall ist klar: Mord und anschließende Selbsttötung. Sagt den Kollegen, sie sollen beim Abtransport der Leichen die fehlenden Finger nicht vergessen. Die müssen noch irgendwo hier sein. Wir können im Augenblick nichts mehr ausrichten. Abmarsch.“

      Sie sammelten sich in der Eingangshalle und verließen geschlossen die Villa.

      Den Schauplatz des Grauens.

      Als sie über die Zufahrt zurück zum Tor gingen, atmete der Kommissar tief durch. Versuchte, seine Lungen und seine Seele von der Aura des Verfalls, der Verzweiflung und des Wahnsinns zu reinigen. Genoss die Wärme und das Licht der Sonnenstrahlen.

      Und warf keinen Blick zurück.

      Sonst hätte er gesehen, dass sich oben im Turmfenster ein Vorhang bewegte.

       Kapitel 1

       Gute Absichten führen oft auf direktem Wege in die Hölle.

      „Willkommen in der verlassenen Nervenheilanstalt zur Nacht der wandelnden Leichen. Willkommen an dem Ort, wo die Seelen gequälter Patienten keine Ruhe finden, durch die Korridore streifen und nach Vergeltung für die erduldete Schändung lechzen. Willkommen zu einer Nacht des Horrors und des blutigen Gemetzels. Zeigen wir den Kreaturen der Dunkelheit, dass wir standhaft sind in unseren Werten, ebenbürtig in einem Kampf ohne Ehre oder Moral, und jagen wir sie zurück in die Hölle!“

      Detektivin Laura Peters wies schwungvoll auf die mächtige Villa mit den Türmchen und Erkern, die hinter dem schmiedeeisernen Tor dunkel in den Nachthimmel ragte.

      „Möge die Halloweenparty beginnen. Aber wie kommen wir jetzt da rein?“

      Das Team stand um sie versammelt, bepackt mit Kerzen, geschnitzten Kürbisköpfen, Getränken und Snacks, und war mehr oder weniger kunstvoll verkleidet für den gruseligen Partyabend. Assistentin Gilda, weiß geschminkt mit roten Lippen, von denen ein Rinnsal Theaterblut zum Kinn hinunterlief, die langen Haare offen wallend über einem dunklen Cape, trug eine Tasche mit italienischen Vorspeisen und Fingerfood aus dem Restaurant ihrer Eltern über der Schulter.

      Detektiv Drake Tomlin, ganz in Schwarz mit weißem Kragen und überdimensionalem, silbernen Kreuz vor der Brust, stellte den Bierkasten ab und atmete tief durch.

      „Was bist du eigentlich? Eine Punkerin?“, fragte er Lauras Freundin, die Pianistin Barbara Hellmann, in deren Tasche drei Flaschen feinster Champagner leise klirrten. Sie hatte die goldblonden Haare unter einer schwarzen Irokesenperücke versteckt, trug schwarzes, eng anliegendes Leder mit Reißverschlüssen und ins Gesicht hatte sie sich eine Narbe geschminkt.

      „Ich bin Lisbeth aus diesen Jahrtausend-Krimis. Ist doch klar, du Exorzistenpriester. Zeigst du nachher, was du drauf hast? Wir tanzen dann das Böse aus diesem Kasten heraus.“

      „Lisbeth. Wusste ich direkt.“ Justin, dessen hochgewachsene, schlaksige Gestalt in einem Werwolf-Ganzkörper-Plüschanzug steckte, grinste breit. Er war erst fünfzehn und damals für den ersten großen Fall der Detektei als Unterstützung für eine Observierung angeheuert worden. Seitdem hatte er in der Agentur sein zweites Zuhause aufgeschlagen. Da seine Eltern sich nicht sonderlich um ihn kümmerten, hatte es Laura zugelassen, dass er seine Hausaufgaben bei ihnen machte und mit durchgefüttert wurde.

      „Du hast die Bücher gelesen?“ Barbara sah ihn überrascht an.

      „Nein. Aber ich habe den Film gesehen. Den mit James Bond. War ganz ok.“

      „Den hab ich auch gesehen. Hätte nicht gedacht, dass du so was magst.“

      „Ich auch nicht. Aber ein Mädchen aus meiner Klasse ist Fan von so alten Filmen und wollte ihn unbedingt gucken.“

      „Ah, ein Mädchen aus deiner Klasse ...“ Barbara zog das letzte Wort in die Länge, doch da er nicht reagierte, ließ sie das Thema fallen. Stattdessen wandte sie sich zu Laura um: „Wann kommt Swetlana? Sollen wir hier draußen auf sie warten?“

      Swetlana Braun gehörte eigentlich nicht zum Team, hatte aber beim letzten großen Fall der Detektei Peters ausgeholfen, weil die Detektive zu dem Zeitpunkt in alle Winde verstreut gewesen waren und weil sie über bemerkenswerte Talente verfügte. Eine Mischung aus Skrupellosigkeit, Tatkraft und Unerschrockenheit. Kurz darauf war sie von Mareks früherer Kollegin Maria, die ein Spezialteam eines osteuropäischen Geheimdienstes leitete, angeheuert worden.

      Laura schüttelte den Kopf. „Ihr Flug aus Kasachstan oder von wo auch immer hatte Verspätung und ich weiß nicht, ob sie den Anschlussflug noch bekommen hat. Wir sollen nicht auf sie warten, hat sie geschrieben. Aber ich habe ihr den Standort geschickt und sie kann uns finden, wenn sie es noch rechtzeitig schafft. Sag mal, Marek, es war deine Idee, die Party in dieser verlassenen Irrenanstalt zu feiern. Wie überwinden wir die erste Hürde und kommen jetzt auf das Gelände?“

      Sie rüttelte leicht an dem Tor und starrte durch die eisernen Stäbe in den dunklen, verwilderten Park. Und auf eine gewundene Auffahrt, auf der vereinzelt Kieselsteine im Mondlicht glitzerten und die sich bis zum Haupteingang der Villa schlängelte.

      „Nichts leichter als das.“

      Detektiv Marek Liebermann, der auf ein Kostüm verzichtet hatte mit dem Kommentar, echte Männer bräuchten